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Wieso ist Basel geteilt und Zürich geeint?

Die Benachteiligung der Landschaft gegenüber der Stadt führte vor über 180 Jahren zur Aufteilung Basels. Ähnliche Konflikte gab es auch in anderen Kantonen. Wieso gibt es dennoch keinen Kanton Zürich-Landschaft?

Ein Plakat wirbt für ein Ja zum «Good Friday Agreement». Bild: Wikipedia

Eskalation der Gewalt: Truppen der Basler Regierung rücken 1831 in Liestal ein. Bild: Webseite des Kantons Basel-Landschaft

In Basel-Stadt und Basel-Landschaft sind gegenwärtig zwei Volksinitiativen hängig, die die zwei Kantone zu einem einzigen zusammenschliessen möchten. Es ist bereits der dritte Versuch, die beiden Basel wieder zu vereinen. Einen ersten hatte in den 1940er Jahren das Bundesparlament vereitelt: Nachdem die Stimmbürger beider Kantone der Wiedervereinigung zugestimmt hatten, verweigerten National- und Ständerat den entsprechenden Verfassungsänderungen die Gewährleistung.[1] Bei einem zweiten Versuch gaben die eidgenössischen Räte zwar ihren Segen, doch die ausgearbeitete Verfassung des neuen Kantons erlitt bei der Abstimmung 1969 im Baselbiet Schiffbruch.

So blieben die beiden Basel zwei getrennte Kantone, und sie sind es bis heute, mehr als 180 Jahre nachdem sich die Landschaft von der Stadt losgelöst hatte.

Die Trennung war die Folge der systematischen Benachteiligung des ländlichen Kantonsteils gegenüber der Stadt. So stellte die Stadt im Grossen Rat 90 von 154 Mitgliedern, obwohl sie deutlich weniger Einwohner hatte als die Landschaft. Ein Bürger der Stadt hatte dadurch ein mehr als doppelt so hohes Stimmgewicht wie ein Bürger vom Land.

1830 erhob sich erstmals Widerstand gegen diese Ungleichbehandlung. Die städtische Elite hatte für die Anliegen des ehemaligen Untertanengebiets allerdings wenig Verständnis. In einer eilig ausgearbeiteten Verfassungsänderung kam sie der Landbevölkerung zwar etwas entgegen und korrigierte das Sitzverhältnis im Grossen Rat auf 79 zu 75 zugunsten der ländlichen Gemeinden. Diese waren damit aber immer noch untervertreten. Als die Baselbieter daraufhin eine eigene provisorische Regierung bildeten, reagierte die Stadt wenig feinfühlig mit militärischer Intervention. Der Konflikt eskalierte rasch und führte 1832 zur Abspaltung des Baselbiets.

Die Trennung Basels ist in der Schweizer Geschichte ein aussergewöhnliches Ereignis. Weniger aussergewöhnlich waren hingegen die Umstände, die dazu geführt hatten. Zu dieser Zeit wurden in mehreren Kantonen die ländlichen Gebiete von ihren Hauptorten benachteiligt, und es gab häufig Widerstand dagegen, so etwa in Zürich und in Bern. Wie ist es also zu erklären, dass Basel heute in zwei Kantone geteilt ist, während Zürich nach wie vor eine Einheit bildet? Mehr noch: Wieso befürwortet heute ein guter Teil der Bevölkerung im Baselbiet einen eigenen Kanton, während im Tösstal oder im Berner Oberland derartige Ideen keine Anhängerschaft haben?

Zur Erklärung dieses Phänomens bietet die Wissenschaft das Konzept der Pfadabhängigkeit an. Dieses besagt, dass in einem kritischen Moment («critical juncture») eine bestimmte Entscheidung oder ein bestimmtes Ereignis den Lauf der Geschichte massgeblich bestimmen kann, selbst wenn sie beziehungsweise es an sich nicht bedeutsam ist. Das führt dazu, dass aus vergleichbaren Konstellationen völlig unterschiedliche Entwicklungen hervorgehen können. Diese werden durch selbstverstärkende Effekte stabilisiert und führen zu einem langfristigen Gleichgewicht.[2]

Friedliche Lösung: Ustertag 1830. Bild: Wikipedia

Friedliche Lösung: Ustertag 1830. Bild: Wikipedia

Was das in der Praxis bedeutet, veranschaulicht der Vergleich Basels mit der Situation in anderen Regionen der Schweiz. Wer (wie der Autor dieser Zeilen) im Zürcher Oberland aufgewachsen ist, begegnet während seiner Schulzeit zwangsläufig irgendwann dem Ustertag. Am 22. November 1830 – weniger als ein Monat nach dem ersten Aufbegehren des Baselbiets – versammelten sich auf dem Zimikerhügel in Uster rund 10’000 Bürger aus allen Teilen der Zürcher Landschaft, um gegen die Bevormundung durch die Hauptstadt zu protestieren. Die Forderungen waren – wie in Basel – vielfältig, wobei – wie in Basel – dem Wahlrecht eine Schlüsselrolle zukam. Kein Wunder, war doch die Ungleichheit im Parlament hier noch viel krasser als in Basel: Die Stadt hatte ein mehr als zehnmal höheres Stimmgewicht als die Landschaft.

Der Ustertag war der wohl grösste Aufstand seiner Art während der Regenerationszeit – und er hatte durchschlagenden Erfolg: Das Parlament beschloss nur wenige Tage später, sich aufzulösen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen. In diesen standen den ländlichen Gemeinden nun zwei Drittel der Sitze zu. Anschliessend wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und bereits im März 1831 vom Volk angenommen.

Durch ihre rasche Reaktion verhinderten Regierung und Parlament in Zürich die Eskalation des Konflikts zwischen Stadt und Land. Ganz anders in Basel: Dort löste die Regierung mit ihrem militärischen Eingreifen die Eskalation erst aus.

Trotz sehr ähnlichen Ausgangslagen schlugen Basel und Zürich ganz unterschiedliche historische Entwicklungen ein. Während der Stadt-Land-Konflikt im politischen Alltag in Zürich kaum noch relevant ist, besteht er in Basel bis heute fort.

Die Vergangenheit wiegt schwer auf der Gegenwart. Das zeigt die Debatte um die Basler Wiedervereinigung, die in den kommenden Monaten noch oft die Gemüter erhitzen dürfte, einmal mehr exemplarisch.


[1] Die Ablehnung geschah wohl weniger aus rechtlichen denn aus politischen Überlegungen. Dies kommt bei Gewährleistungsentscheiden nicht selten vor.

[2] Kriesi, Hanspeter (2007): Vergleichende Politikwissenschaft. Teil I.

Direkte Demokratie – eine Begriffsklärung

Direkte Demokratie für DummiesAm 9. Juni stimmen die Schweizer Stimmbürger über die Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrats ab. Die (mehr oder weniger professionellen) Kampagnen der Befürworter und Gegner sind angelaufen, in den Medien und an den Stammtischen werden die Argumente für und gegen das Anliegen diskutiert.

Unglücklicherweise wiederholt sich dabei immer wieder die gleiche Begriffsverwechslung: Die Vermischung der Volkswahl der Regierung mit der direkten Demokratie. Erst kürzlich wieder konnte man in einer Publikation der Partei, die hinter der Initiative steht, lesen:

«Die Volkswahl ist ein Vertrauensbeweis ins Volk und eine Stärkung unserer direkten Demokratie.»

Wer hofft, es handle sich dabei um einen einmaligen Ausrutscher, wird enttäuscht. Vielmehr ist die «Stärkung der direkten Demokratie» das Hauptargument der Befürworter, von dem sie rege Gebrauch machen. Auch unter Politikern ist der Brückenschlag zur direkten Demokratie äusserst beliebt, wie etwa Felix Müri beweist:

«Es ist in un­se­rem di­rekt­de­mo­kra­ti­​schen Land die nor­malste Sache der Welt, dass das Volk seine po­li­ti­schen Ver­tre­ter wählt – und zwar di­rekt.»

… oder Maurus Zeier:

«Die Volkswahl des Bundesrates müsste in einer direkten Demokratie eigentlich selbstverständlich sein.»

… oder Toni Brunner:

«Wir sind überzeugt von der Volkswahl, weil der Wettbewerb der verschiedenen Systeme ja gezeigt hat, dass eine direkte Demokratie sehr wertvoll ist. […] Für mich wäre es wie eine Vollendung der direkten Demokratie, wenn die Bevölkerung alle vier Jahre nebst dem Parlament am selben Tag auch noch den Bundesrat direkt wählen könnte.»

… und noch einige andere.

Doch nicht nur Politiker, auch die Medien beteiligen sich fleissig an der begrifflichen Verwirrung, so zum Beispiel das staatliche Fernsehen, das sie sogar in den Titel eines Artikels auf seiner Webseite aufnimmt:

«Direkte Demokratie stärken oder Bewährtes bewahren»

Selbst die Gegner der Volkswahl schmücken sie in ihren Kommentaren mit direktdemokratischen Blumen, etwa Urs Buess in der TagesWoche:

«Man kann davon ausgehen, dass der Bundesrat mit Volkswahlen manchmal anders ausgesehen hätte als die Zusammensetzung, welche die Bundesversammlung bestimmte. Mit anderen Worten: Wahrscheinlich wird – was die Besetzung des Bundesrats betrifft – die direkte Demokratie nicht bis in die letzte Konsequenz ausgeübt.»

Es ist höchste Zeit für eine Begriffsklärung. Deshalb sei an dieser Stelle ein für alle Mal gesagt: Man mag die Volkswahl der Regierung befürworten oder ablehnen – doch mit direkter Demokratie hat sie rein gar nichts zu tun.

Wie es der Name bereits sagt, handelt es sich bei der Volkswahl um eine Wahl. Die Stimmbürger entscheiden, welche Personen sie repräsentieren sollen. Dagegen geht es bei der direkten Demokratie ausschliesslich um Sachfragen, über die die Stimmbürger (anstatt ihrer Repräsentanten) direkt entscheiden.

Darauf hatte Andreas Gross bereits während der Debatte im Nationalrat hingewiesen:

«Die Volkswahl ist keine «Komplettierung» der direkten Demokratie, denn – und darauf müssen wir wahrscheinlich zurückkommen – die direkte Demokratie geht von der Sachabstimmung aus, und die Wahl ist, wie gesagt, eine Personenwahl und etwas ganz anderes.»

Dieses Unterschieds sind sich offenbar nicht alle seiner Kollegen bewusst. Dabei würde nur schon ein Blick auf Wikipedia genügen:

«Der Begriff Direkte Demokratie […] bezeichnet sowohl ein Verfahren als auch ein politisches System, in dem die stimmberechtigte Bevölkerung […] unmittelbar über politische Sachfragen abstimmt.»

Im Falle einer Einführung der Volkswahl des Bundesrats gäbe es in der Schweiz nicht eine einzige Volksabstimmung mehr. Die direkte Demokratie in der Schweiz ist vom Wahlverfahren für die Regierung schlicht und einfach überhaupt nicht betroffen.

Natürlich ist Wikipedia nicht immer über alle Zweifel erhaben. Daher lohnt es sich, ergänzend die anerkannte Fachliteratur zu konsultieren. Beispielsweise das Standardwerk «Encyclopedia of Democratic Thought», wo auf Seite 224 zu lesen ist:

«Direct democracy exists to the extent that citizens can vote directly on policy alternatives and decide what is to be done on each important issue. This contrasts with political arrangements under representative democracy where electors can only vote for individuals (in practice, alternative party governments) who will then decide on the policy outcomes.»

Der zweite Satz erklärt es kurz und schmerzlos: Die Wahl der Regierung durch das Volk ist ein Element der repräsentativen Demokratie und somit das genaue Gegenstück zur direkten Demokratie.

Noch klarer drückt es Theo Schiller in seinem Buch «Direkte Demokratie. Eine Einführung» aus:

«Direkte Demokratie bedeutet heute, dass die Bürgerinnen und Bürger als Stimmbürger im Wege der Volksabstimmung politische Sachfragen selbst entscheiden. Direktwahlen von Amtsträgern (z.B. Bürgermeistern oder Regierungschefs) gehören nicht zur direkten, sondern zur repräsentativen Demokratie.»

Wenn überhaupt, geht es bei der Volkswahl des Bundesrats also um die Stärkung der repräsentativen Demokratie, nicht der direkten Demokratie. Davon war im Abstimmungskampf bisher allerdings überhaupt nie die Rede.

Dass es sich bei der Volkswahl des Bundesrats tatsächlich um eine direkte Wahl handelt (im Gegensatz zur indirekten durch das Parlament), mag die häufige Verwechslung mit der direkten Demokratie teilweise erklären. Aber das kann keine Entschuldigung sein, insbesondere nicht bei Politikern, die sich über Jahre mit dem Thema beschäftigt haben.

Eine bessere Erklärung für die Vermischung ist wohl, dass sich Politiker daraus Vorteile für den Abstimmungskampf erhoffen. Da die direkte Demokratie (wie die Demokratie allgemein) als positiv wahrgenommen wird, wird sie von den Politikern nur allzugerne vor den Wagen gespannt, auch wenn es in Tat und Wahrheit um etwas ganz anderes geht. Wer die direkte Demokratie aber tatsächlich hoch hält, sollte darauf achten, den Begriff richtig zu verwenden und nicht leichtfertig mit anderen Fragen vermischen.

Deshalb, geschätzte Politiker und Journalisten, nochmals zum Mitschreiben: Bei der direkten Demokratie geht es einzig und allein um Sachfragen. Das Wahlverfahren für den Bundesrat hat damit nichts zu tun (es sei denn, man wollte unsere Bundesräte als Sachen behandeln, was sich allerdings nur schon aus Gründen des Anstands nicht gebietet).

Das Steuerabkommen und das «paradox of weakness»

Wer sitzt am kürzeren Hebel? Die Schweizer Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf und ihr deutscher Amtskollege Wolfgang Schäuble (Bild: Keystone)

Wir müssen wieder mal zusammenstehen. Im Steuerstreit mit Deutschland wird von allen Seiten nationale Einigkeit beschworen. In der gestrigen «NZZ am Sonntag» (Text nicht online verfügbar) mokiert sich Chefredaktor Felix E. Müller über die Konkurrenz, die seiner Meinung nach zu wenig stramm die offizielle Position der Eidgenossenschaft vertritt. Dem Tages-Anzeiger macht Müller zum Vorwurf, dass er «angebliche Schwachstellen» des Steuerabkommens mit Deutschland anprangert, während der Blick «primär den Standpunkt Deutschlands» transportiere. Eine breite öffentliche Diskussion, klärt uns Müller auf, sei «der grösste Nachteil» in zwischenstaatlichen Konflikten.

Offenbar vertritt Müller die Ansicht, dass Meinungs- und Pressefreiheit zugunsten höherer Ziele eingeschränkt werden sollten. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Von dieser Frage einmal abgesehen lässt die These, eine offene Diskussion untergrabe die Verhandlungsposition eines Landes, mit Blick auf die Realität gewisse Zweifel aufkommen. Gerade das Beispiel des Steuerabkommens weist eher auf das Gegenteil hin. Wäre ganz Deutschland ohne wenn und aber hinter seiner Regierung gestanden, würde das im September 2011 unterschriebene Steuerabkommen wohl mit dem damaligen Wortlaut in Kraft treten. Aufgrund des ausgebauten Föderalismus braucht das Abkommen aber auch in der kleinen Parlamentskammer, dem Bundesrat, eine Mehrheit – und damit auch Stimmen der Opposition. Das erlaubte es der SPD, weitere Zugeständnisse von der Schweiz zu fordern, indem sie den Vertag scheitern zu lassen drohte. Der innenpolitische Widerstand brachte für Deutschland schliesslich ein besseres Verhandlungsergebnis.

In der Politikwissenschaft wird dieses Phänomen als «paradox of weakness» bezeichnet. Der Begriff geht auf Thomas Schelling zurück, der feststellte, dass Regierungen, die innenpolitisch schwach sind, in Verhandlungen oft erfolgreicher sind als vermeintlich stärkere Verhandlungspartner. Je mehr Widerstand im Innern eine Regierung glaubhaft machen kann, desto eher kommen ihr andere Regierungen entgegen – schliesslich wollen sie nicht riskieren, dass eine nach aufwendigen Verhandlungen gefundene Lösung bei der Ratifizierung scheitert.

Zu den Instrumenten des «paradox of weakness» kann auch die direkte Demokratie gezählt werden. Sie dürfte sogar ein besonders wirksames Mittel sein, ist das Stimmvolk doch noch wesentlich unberechenbarer als eine Oppositionspartei. Kann eine Regierung in Verhandlungen glaubhaft machen, dass die Bevölkerung eine Lösung versenken könnte, werden die Verhandlungspartner eher zu Konzessionen bereit sein.

Damit lässt sich auch erklären, dass die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU im Grossen und Ganzen gute Resultate erzielt hat, obschon sie eigentlich die schwächere der beiden Parteien ist. Denn während seitens der EU ein Kopfnicken aller Kommissionsmitglieder genügte, mussten in der Schweiz regelmässig gut 4 Millionen Bürger überzeugt werden. Das Referendum hing wie ein Damoklesschwert über den Verhandlungen und drohte jahrelange Bemühungen zunichte zu machen. Auch das Steuerabkommen mit Deutschland untersteht dem (fakultativen) Referendum. Entsprechende Pläne hat die Auns, wie der SonntagsBlick berichtete. Möglicherweise wird das die Motivation der SPD, weitere Nachverhandlungen zu fordern, dämpfen.

Selbst im undemokratischen Theater innerhalb der EU um den Vertrag von Lissabon zeigt sich diese Wirkung der direkten Demokratie: Die Iren lehnten den Vertrag 2008 in einer Volksabstimmung zwar zunächst ab. Das Nein gab der Regierung in Dublin aber die Möglichkeit, in der EU zahlreiche Vorteile für ihr Land auszuhandeln. Brüssel gewährte Irland zähneknirschend eine Sonderbehandlung, damit die Bevölkerung dem Lissabonner Vertrag im zweiten Anlauf brav zustimmte.[1]

Zum bedingungslosen Zusammenstehen besteht im Steuerstreit mit Deutschland also kein Grund. Tages-Anzeiger und Blick sollen von der Meinungs- und Pressefreiheit ohne schlechtes Gewissen Gebrauch machen. Was die freisinnige Qualitätspresse aus Zürich angeht, so dürfte sie ihre Rolle durchaus über die Funktion als bundesrätliches Sprachrohr hinaus interpretieren. Demokratischer Pluralismus schwächt die Verhandlungsposition der Schweiz nicht – hingegen wird der demokratische Pluralismus durch Denk- und Schreibverbote gefährdet.


[1] Im Fall des Fiskalpakts, über den Irland am 31. Mai abstimmen wird, spielt der Vorteil der direkten Demokratie allerdings nicht im gleichen Masse: Der Vertrag wird in Kraft treten, ob die Iren mitmachen oder nicht.

Warum YB auch dieses Jahr nicht Meister wird

Es soll ja Menschen geben, die glauben, dass Fussballmeisterschaften durch individuelle Klasse, Taktik oder Teamgeist entschieden werden. Die Realität sieht natürlich anders aus, wie eine kurze wissenschaftliche Analyse beweist: Entscheidend sind nicht etwa sportliche Faktoren, sondern das politische System. Oder um es mit den Worten Bill Clintons zu sagen: It’s the polity, stupid![1]

Wenn man historische Resultate von Fussballmeisterschaften betrachtet, fällt auf, dass in manchen Ländern fast ausschliesslich Vereine aus der Hauptstadt gewinnen. In anderen leiden die Clubs aus dem politischen Zentrum dagegen an chronischer Erfolglosigkeit. Eine mögliche Erklärung ist, dass die politischen Systeme in den verschiedenen Staaten dem Zentrum unterschiedlich grosse Macht einräumen. In föderalistischen Staaten geniessen die unteren staatlichen Ebenen eine relativ grosse Autonomie. In zentralistischen Staaten konzentriert sich die politische Macht dagegen stärker auf das Zentrum. Dieses nimmt dadurch meist auch wirtschaftlich und kulturell eine dominierende Rolle ein.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verein aus der Hauptstadt die Meisterschaft gewinnt

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verein aus der Hauptstadt die Meisterschaft gewinnt, für föderalistische und nicht-föderalistische Länder (Zum Vergrössern auf die Grafik klicken).

Überträgt sich diese Dominanz auch auf den Sport? Haben Fussballvereine aus der Hauptstadt in zentralistischen Staaten bessere Chancen auf die Meisterschaft als in föderalistischen?

Betrachten wir die europäischen Ligen, fällt die Antwort eindeutig aus: Zwischen 1994 und 2010 gewannen die Hauptstadtclubs in föderalistischen Staaten weniger als jede zehnte Meisterschaft. Ganz anders in zentralistischen Staaten: Dort stammte der Sieger in über 40 Prozent der Fälle aus der Hauptstadt.[2] Und dabei wurden Länder wie Serbien oder Kroatien, wo der Anteil noch höher liegt, wegen fehlenden Daten nicht einmal mitgezählt.

Auf der Ebene der einzelnen Staaten bestätigt sich das Ergebnis: In drei Ländern konnte die Hauptstadt im Untersuchungszeitraum keine einzige Meisterschaft feiern: Deutschland, Belgien und die Schweiz – alles föderalistische Staaten. Am anderen Ende der Skala steht das zentralistische Estland, wo in jeder der 17 untersuchten Saisons ein Verein aus Tallinn gewann.

Anhänger von YB und Hertha sind also gut beraten, bei der nächsten verpassten Meisterschaft ihre Mannschaft nicht gleich zur Hölle zu wünschen – sie kann schliesslich nichts für das politische System, durch das sie systematisch benachteiligt wird.

Anzahl Meisterschaften von Vereinen aus der Hauptstadt zwischen 1994 und 2010 in 29 Staaten (rot: föderalistisch; blau: nicht föderalistisch).


[1] Dass Politik und Fussball eng zusammenhängen, ist keine neue Erkenntnis. So wissen wir beispielsweise bereits, dass sozialdemokratisch regierte Länder bei Weltmeisterschaften die besten Chancen haben und dass eine Revolution in einem Land einen positiven Einflluss auf die Leistung der Fussballnationalmannschaft hat.

[2] Untersucht wurden 29 europäische Staaten im Zeitraum zwischen 1994 und 2010. Einige Staaten konnten nicht einbezogen werden, entweder weil nicht für den ganzen Zeitraum Daten verfügbar waren oder weil die Liga nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmt (Grossbritannien). Die Daten zum politischen System stammen vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Die Listen der Meisterschaftsgewinner stammen von der RSSSF. Vereine aus Vororten der Hauptstadt (z.B. Olympiakos, Anderlecht oder Brøndby IF) wurden nicht der Hauptstadt zugerechnet Die ganze Datentabelle zum Nachrechnen findet sich hier.

Die falsche Frage

Es sind wohl die detailliertesten Zahlen, die zum Thema der Parteienfinanzierung in der Schweiz je publiziert wurden: In einer heute veröffentlichten Studie [PDF] im Auftrag des Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartements analysierte das Institut Sotomo der Universität Zürich unter Leitung von Michael Hermann die Werbeausgaben für Abstimmungen und Wahlen zwischen 2005 und 2011.

Die Untersuchung bestätigt im Wesentlichen frühere Untersuchungen und allgemeine Vermutungen:

  • Unter den Parteien hat die SVP mit Abstand am meisten Geld für Kampagnen zur Verfügung.
  • Bei Abstimmungen gibt es teilweise beträchtliche Unterschiede zwischen Befürwortern und Gegnern, was das Werbebudget betrifft. In jeder dritten Abstimmung betrug das Verhältnis der Werbebudgets 1 zu 4.
  • Die grössten Unterschiede bestanden zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager, was massgeblich auf die Finanzkraft der Wirtschaftsverbände zurückzuführen ist.
  • Im Wahlkampf für die eidgenössischen Wahlen 2011 gaben die Parteien allein zwischen Mai und Oktober 42 Millionen Franken für Werbung aus und überboten damit den Rekord von 2007 nochmals.[1]

Soweit so wenig überraschend.[2] Und einmal mehr entbrennt die Diskussion über den Einfluss des Geldes auf politische Entscheidungen. Der Abstimmungserfolg der Wirtschaftsverbände sowie der SVP bei einigen ihrer Initiativen ist Wasser auf den Mühlen derjenigen, welche den «Ausverkauf der Demokratie» beklagen. Die Beschuldigten spielen den Einfluss des Geldes herunter und empören sich über die Unterstellung, der mündige Stimmbürger liesse sich durch Wahl- und Abstimmungskampagnen in seinem Entscheid beeinflussen.

Die Frage, ob Wahl- und Abstimmungswerbung das Ergebnis massgeblich beeinflusst, lässt sich nicht abschliessend beantworten. Sie ist aber ohnehin irrelevant. Aus staatspolitischer Sicht entscheidend ist nicht, ob Abstimmungen und Wahlen käuflich sind, sondern ob die Bürger sie als käuflich empfinden. Mit den Worten von Martina Caroni, Rechtsprofessorin an der Universität Luzern:

«Wenn die Stimmbürger das Gefühl haben, dass Geld einen Einfluss auf das Resultat hat, wird ihr Vertrauen in die Demokratie untergraben.» (Quelle)

Es geht nicht um einzelne Wahl- und Abstimmungsergebnisse. Es geht um nichts Geringeres als die Grundlage unseres politischen Systems.


[1] Die Zahlen decken jeweils nicht die gesamten Werbeausgaben ab. Beispielsweise werden die Kosten der Broschüren, welche die SVP an alle Schweizer Haushalte zu verschicken pflegt, nicht erfasst.

[2] Siehe auch den Beitrag im Blog von Mark Balsiger.