100 Jahre verzerrter Proporz: 10 Fragen an den Bundesrat

Die übernächsten Nationalratswahlen 2019 werden gleichzeitig das 100-jährige «Proporz»-Jubiläum darstellen. Anlass genug, sich Gedanken zu einem proportionaleren Proporz zu machen. Und dem Bundesrat hierzu einige kritische Fragen zu unterbreiten.

Die «Proporz»-Postkarte warb, 1910 noch erfolgslos, für die Volksinitiative «für die Proporzwahl des Nationalrates»

Die «Proporz»-Postkarte warb, 1910 noch erfolglos, für die Volksinitiative «für die Proporzwahl des Nationalrates»

Vor wenigen Wochen hat die Bundeskanzlei den Bericht «Proporzwahlsysteme im Vergleich» zuhanden des Bundesrats veröffentlicht. Dieser sollte «die laufende Diskussion zu den Vor- und Nachteilen der unterschiedlichen Wahlsysteme» beleuchten, insbesondere im Kontext zum Wahlverfahren des Nationalrates. Wir haben den Bericht studiert und mit diversen Experten und Politikern besprochen: Er will den verzerrenden Status quo mit der starken Bevorteilung der grossen Parteien bewahren und zeigt leider praktisch keinerlei Reformwille. Daher richten wir, in Form einer palamentarischen Interpellation, einen Strauss an Fragen an den Bundesrat. Damit die Jubiläums-Wahlen 2019 womöglich einen Proporz erhalten, der seinem Namen gerecht wird.

1. Der Bericht erwähnt primär «die aus den unterschiedlichen Grössen der Wahlkreise resultierenden Verzerrungen». In den Kantonen Jura und Schaffhausen mit ihren lediglich zwei Nationalratssitzen wird die Wahlfreiheit jedoch über Gebühr eingeschränkt, weil das natürliche Quorum dort auf sehr hohe 33 Prozent steigt. (Bundesrats-)Parteien mit beispielsweise immerhin 20 Prozent Wähleranteil gehen dabei leer aus, weshalb schweizweit etablierte Parteien in kleineren Kantonen oftmals schon gar keine Listen aufstellen. Erachtet der Bundesrat solch hohe Sperrhürden und dadurch Ausschluss eines breiten Elektorates noch als demokratisch legitim? Beurteilt er es nicht auch kritisch, wenn in einem Kanton de facto nur aus zwei Listen ausgewählt werden kann, während dem Wähler im Nachbarkanton ein ungleich breiteres Listensortiment mit reellen Chancen offen steht?

2. Sollte der Nationalrat – nomen est omen – nicht primär die Nation und ihre mannigfaltigen Strömungen als Ganzes repräsentieren, da mit dem Ständerat bereits das föderalistische Korrektiv besteht?

3. Die Darstellung der Nachteile des geltenden Verfahrens Hagenbach-Bischoff verschweigt seinen grössten Mangel überhaupt: die systemische Benachteiligung kleinerer Parteien. Politikwissenschafter wie Daniel Bochsler sprechen gar von einer «20-fachen Kopfsteuer», welche den Grossparteien zu entrichten ist. Sollte diese grundlegende Ungleichbehandlung nicht dargelegt und kritisiert werden? Findet er es nicht problematisch, wenn Parteien aufgrund unfairer Rundung und hoher Quoren um einige Sitze geprellt werden?

4. Das Verfahren Sainte-Laguë würde dieser Diskriminierung ein Ende bereiten, da es sich gegenüber der Parteigrösse neutral verhält. Ist dem Bundesrat bewusst, dass dieses nicht etwa «komplexere Rechenoperationen» gegenüber Hagenbach-Bischoff erfordert, sondern (beides sind Divisorverfahren) nur, aber immerhin, eine Standardrundung statt Abrundung verwendet? Was spräche dagegen, wenigstens einmal zu einer neutralen Rundung (Sainte-Laguë oder Hare/Niemeyer) zu wechseln, wie es auch ein Drittel der Kantone (AG, BS, NW, SH, TI, VD, ZH, ZG) kennt, zumal für diesen kleinen, aber essenziellen Wechsel nicht einmal eine Verfassungsänderung nötig wäre?

5. Erachtet er es nicht auch als einseitig, aus negativen Einzelmeinungen zum Doppelproporz eine negative Stimmung («fehlende Akzeptanz») hierzu zu konstruieren, um dadurch den unfairen Status quo zu legitimieren? Und ist ihm bewusst, dass zahlreiche namhafte Experten aus Staats- und Verfassungsrecht, Politikwissenschaften, Mathematik usw. für eine Reform des Zuteilungsverfahrens plädieren, zumindest hin zur Gleichbehandlung aller Parteien?

6. Findet er es nicht heikel, wenn sich der Bund in kantonale Abstimmungen (NW, ZG) und Vernehmlassungsverfahren (SZ) dergestalt einmischt, indem er behauptet, dass der Doppelproporz dort «auf deutliche Ablehnung stösst» und einseitig nur die Parolen von ablehnenden Parteien wiedergibt? Weiss er, dass der Doppelproporz vom Volk bisher ausnahmslos und klar angenommen wurde, wenn er als Behördenvorlage unterbreitet wurde? Ist er nach den Abstimmungen vom 22. September 2013 bereit, seine Einschätzung zur Akzeptanz von fortschrittlichen und verfassungskonformen Wahlverfahren zu revidieren?

7. Erachtet er es nicht auch ein wenig desavouierend den Parlamentariern diverser Kleinparteien (CSP Oberwallis, CSP Obwalden, EVP, Lega, MCG) gegenüber, wenn von «Verhinderung von Splitterparteien» die Rede ist? Könnte nicht respektvoller – gerade in unserem sprachlich, kulturell, geografisch, religiös und historisch stark diversifizierten Land – von «Parteienvielfalt» gesprochen werden? Werden gegen die etwaige «Fragmentierung des Parlaments» nicht deshalb Fraktionen mit mindestens fünf Mitgliedern eines Rates gebildet?

8. Der Bericht fokussiert vornehmlich auf Art. 136 Abs. 1 BV als rechtliche Grundlage. Wäre es nicht angebracht – gerade aus Sicht des individuellen Wählers und seines Anspruchs auf Erfolgswertgleichheit –, auch beziehungsweise stärker auf die aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 34 BV sowie Art. 25 des UNO Pakts II abgeleiteten grundrechtlichen Garantien in Sachen Wahlfreiheit hinzuweisen?

9. Glaubt er nicht auch, dass Elektrizität und eine IT-Infrastruktur bereits unter dem geltenden Wahlverfahren unabdingbare Hilfsmittel darstellen (siehe Informatikpanne bei den Wahlen 2011 in Waadt)? Einen Doppelproporz ohne IT-Mittel zu berechnen ist tatsächlich aufwändig – genauso jedoch wie das aktuelle Verfahren mit all seinen Listen- und verschachtelten Unterlistenverbindungen. Ist ihm sodann bewusst, dass hierbei die einmalige Berechnung einerseits und die nachmalige Nachvollzieh- und Verifizierbarkeit andererseits zu differenzieren sind? Denn gerade bei der Überprüfbarkeit ex post schneidet der Doppelproporz durchaus besser ab als der intransparente Hagenbach-Bischoff.

10. Das «beste» oder «gerechteste» Wahlsystem existiert tatsächlich nicht. Anerkennt der Bundesrat aber, dass es nichtsdestotrotz Wahlverfahren gibt, die die politisch definierten Ziele (z. B. Wahl in Wahlkreisen, Proportionalität, Bevorzugung bestimmter Parteien) besser oder schlechter erfüllen können? Wäre es für den Bund als staatspolitisches Vorbild nicht langsam an der Zeit, die wahlrechtlichen Hausaufgaben, welche in den letzten Jahren bereits viele Kantone (AG, BE, BS, GL, LU, NW, SH, TG, ZH, ZG) erledigt haben oder noch daran arbeiten (FR, NE, SZ, UR, VS), nun ebenfalls an die Hand zu nehmen? Ist er bereit – nach bald 100 Jahren verzerrtem Hagenbach-Bischoff – Vorschläge zu einem neutraleren Wahlverfahren zu unterbreiten, gerade im Hinblick auf das Proporzwahl-Jubiläum 2019?

4 responses to “100 Jahre verzerrter Proporz: 10 Fragen an den Bundesrat

  1. Michael Perini January 6, 2014 at 12:47 am

    Diversität ist besser. siehe auch: http://ahoipolloi.blogger.de/stories/1404401/

    Das passiert noch lange nicht. Dafür sind die Sitze zu sehr an die Kantone ge- und verbunden.
    Ich glaube dahinter steckt eine Verschwörung der alten, katholischen sowie traditionellen Parteien. Eine GLP wäre brandgefährlich für die heutigen Bundesratsparteien, wenn der Nationalrat die vielen “Fötzelstimmen” gebündelt an die Parteien weitergäbe. Habe ich nicht hier gelesen, dass in Zürich prompt ein paar Parteien ein, zwei Sitze herumschieben mussten? Es gibt so viele Faststädte in der Schweiz, die voll mit frustrierten semiurbanen Bewohnern – denen die herkömmlichen Parteien nicht genügen – die politische Grundlage in diesem Land ganz schnell ändern können.

  2. Pingback: Alte Argumente gegen neue Wahlsysteme | Napoleon's Nightmare

  3. Pingback: Grossparteien erhalten 20 Nationalräte zu viel – zulasten der Jungen | Napoleon's Nightmare

  4. Pingback: 100 Jahre Nationalrats-Proporz: Wenig Auswahl trotz Listenflut | Napoleon's Nightmare

Leave a comment