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Eine Nebensächlichkeit namens Bundesverfassung

Immer wieder setzt sich die Bundesversammlung über die Verfassung hinweg. Es gilt, die oberste Rechtsquelle der Eidgenossenschaft besser zu schützen – gerade aus Rücksicht vor der direkten Demokratie.

Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti war ein überzeugter Verfechter der direkten Demokratie. In der turbulenten Zeit des Zweiten Weltkriegs wehrte er sich vehement gegen die Machtanmassungen der Bundesbehörden. Der Volkswille stand für ihn über allem. Die Demokratie bezeichnete er als die beste Hüterin der Menschenrechte.

Gleichzeitig befürwortete Giacometti die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz.

Aus heutiger Sicht scheint diese Position widersprüchlich, wird doch die direkte Demokratie und der Volkswille als Hauptargument gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit vorgebracht. Die Rolle des Verfassungsgerichts kommt in der Schweiz dem Volk zu, lehrt man uns.

Diese Sichtweise blendet allerdings aus, dass auch das Parlament bisweilen den verantwortungsvollen Umgang mit der Verfassung vermissen lässt.

Ein Exemplar der Schweizer Bundesverfassung (Bild: Wikipedia).

Ein Exemplar der Schweizer Bundesverfassung (Bild: Wikipedia).

Ein anschauliches Beispiel bot jüngst die Herbstsession der Eidgenössischen Räte. Seit vergangenem Jahr steht in der Bundesverfassung geschrieben: «Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde ist auf höchstens 20 Prozent beschränkt.» Im Gesetz zur Umsetzung dieses Artikels hat der Ständerat nun aber so viele Ausnahmen eingeführt, dass der Verfassungstext zur Makulatur wird.

Es war nicht das erste Mal, dass das Parlament die Verfassung, sagen wir mal: eigenwillig auslegte. In der Frühjahrssession etwa hatten die Räte zu entscheiden, ob das Freihandelsabkommen mit China dem Referendum unterstellt werden sollte. Gemäss Bundesverfassung müssen Staatsverträge, die «wichtige rechtsetzende Bestimmungen» enthalten, zwingend dem fakultativen Referendum unterstellt werden. Die Befürworter betonten in der Debatte die wirtschaftliche Bedeutung des Freihandelsabkommens ausführlich. Anschliessend hielten die meisten von ihnen das Vertragswerk dann aber plötzlich nicht mehr für so wichtig – jedenfalls lehnten sie eine Unterstellung unter das Referendum ab.

Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Entscheid verfassungswidrig war. Solche Debatten verstärken aber den Eindruck, dass die Politiker die Verfassung gerne so auslegen, wie es ihnen politisch gerade hilft, und dabei die rechtlichen Leitplanken, an denen sie sich zu orientieren hätten, bisweilen stark aus-, wenn nicht überdehnen. Es scheint, dass sich die gewählten Volksvertreter nur noch selektiv an die Verfassung halten, gerade so, als wäre diese mehr eine Sammlung unverbindlicher Ratschläge denn ein rechtlich bindendes Dokument – oder wie SP-Nationalrat Daniel Jositsch einmal die Einstellung der Ratsmehrheit zusammenfasste: «Für uns soll die Verfassung nicht gelten, ausser es passt uns gerade zufälligerweise.»

Man will ihnen das nicht verübeln. Schliesslich ist die Verfassung – formell die oberste Rechtsquelle der Eidgenossenschaft – für sie tatsächlich nicht bindend. Sie können sich über sie hinwegsetzen, wie es ihnen beliebt, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.

Umso wichtiger wäre es, das Parlament gewissen Kontrollen zu unterwerfen, um ihm die Verfassungstreue zu erleichtern. Solche Kontrollen könnte ein Verfassungsgericht[1] ausüben.

Keine Einschränkung der Volksrechte

Viele befürchten allerdings, dass ein Verfassungsgericht die Volksrechte einschränken könnte. So erklärte der Obwaldner CSP-Nationalrat Karl Vogler während einer Ratsdebatte zu diesem Thema: «Die direktdemokratischen Rechte des Volkes (…) würden deutlich eingeschränkt und beschnitten.» Das ist falsch, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte sich ein Verfassungsgericht an der bestehenden Verfassung zu orientieren – die bekanntlich vollständig auf Beschlüssen des Volkes basiert. Zweitens wäre ein Verfassungsgericht nicht befugt, Volksinitiativen zu überprüfen und über ihre Gültigkeit zu befinden. Eine Vorprüfung von Volksinitiativen ist zwar möglich (und wurde in diesem Blog ebenfalls schon angedacht). Auch ist es denkbar, dass diese Vorprüfung ein Gericht vornimmt. Diese Aufgabe hat jedoch nichts mit der Verfassungsgerichtsbarkeit zu tun.[2] Ein Verfassungsgericht hätte lediglich darüber zu befinden, ob untergeordnete Rechtstexte mit der Verfassung vereinbar sind – nicht aber über (vorgeschlagene) Änderungen der Verfassung selbst.

Im Übrigen sei daran erinnert, dass das Bundesgericht schon heute kantonale Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüft. Bisher hat sich jedoch noch niemand darüber beklagt, dass damit die direkte Demokratie in den Kantonen beschnitten würde.

Für das Volk wäre die Verfassungsgerichtsbarkeit somit keine Einschränkung – ganz im Gegenteil zum Parlament, das in der Gesetzgebung an die Verfassung gebunden ist und durch die Verfassungsgerichtsbarkeit an diesen Rahmen erinnert würde.

Kein Wunder hat sich das Parlament bisher immer wieder gegen die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gewehrt. Zuletzt erlitt die Idee 2012 Schiffbruch.

Argumentiert wurde dabei stets mit dem «Volk», das man vor den bösen Richtern schützen wolle. Dabei sind das Problem nicht die Richter, sondern die Parlamentarier, die weiterhin nach Belieben verfassungswidrige Gesetze beschliessen und sich damit über das Volk hinwegsetzen können. Diese Möglichkeit wollten sich die Damen und Herren im Parlament bewahren.

Ein Kompromissvorschlag

Die Verfassungsgerichtsbarkeit dürfte in der Schweiz damit bis auf Weiteres keine Option sein. Daher ein Kompromissvorschlag: Wenn schon mit dem Volkswillen argumentiert wird – wieso führen wir nicht eine Verfassungsgerichtsbarkeit unter Vorbehalt der Volksrechte ein? Konkret: Vor dem Verfassungsgericht angefochten werden können nur Gesetze, gegen die kein Referendum ergriffen worden ist. Wenn der Verfassungsgeber einem Gesetz also seinen Segen gegeben hat, ist dieses gegen allfällige gerichtliche Beschlüsse «immun».[3]

Das wäre ein Kompromiss, der auch für jene annehmbar sein sollte, die in der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Einschränkung des Volkes erblicken.

Der Vorschlag ist übrigens nicht neu: Zaccaria Giacometti brachte ihn bereits in den 1930er Jahren vor.[4] Die Idee ist ein Beleg für Giacomettis Überzeugung, dass das Volk letztlich der beste Garant für die Einhaltung der Verfassung darstellt. Auf das Parlament sollte man sich dazu jedenfalls nicht verlassen.

 


[1] Unter dem Begriff «Verfassungsgericht» wird im Folgenden ein Gericht verstanden, das Gesetze, Verordnungen etc. auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen kann. Diese Aufgabe muss keineswegs ein speziell dafür geschaffenes Gericht übernehmen, sondern sie kann auch dem Bundesgericht übertragen werden (was vermutlich die sinnvollste Option wäre).

[2] Nichtsdestotrotz wird in der öffentlichen Debatte die Verfassungsgerichtsbarkeit allzu oft mit der Vorprüfung und somit potentiellen Kassation von Volksinitiativen assoziiert, vgl. bspw. Stefan Howald: Lebt Demokratie im Alltag, Tages-Anzeiger, 10.12.2014: «Überfällig ist auch ein Bundesverfassungsgericht, das Initiativen auf Vereinbarkeit mit gültigem Völkerrecht prüft.»

[3] Bewusst offengelassen wird an dieser Stelle die konkrete Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit, beispielsweise, ob Gesetze vor ihrem Inkrafttreten (abstrakte Normenkontrolle) oder im konkreten Anwendungsfall (konkrete Normenkontrolle) auf ihre Verfassungsmässigkeit hin geprüft werden sollen.

[4] Zaccaria Giacometti: Die Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetzgebung und ihre Garantien, Schweizerische Juristen-Zeitung, 30. Jahrgang (1933/34), S. 289-293.

Unerschütterlich wie ein Bergeller Granitgipfel

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bedrohte das Vollmachtenregime die schweizerische Demokratie. Einer der wenigen, die sich gegen die autoritären Tendenzen auflehnten, war der Bündner Staatsrechtsprofessor Zaccaria Giacometti. Eine Biografie erinnert an den unbequemen Denker.

Zaccaria Giacometti. (Zeichnung von Alberto Giacometti, 1915)

Zaccaria Giacometti (Zeichnung von Alberto Giacometti, 1915).

Publiziert (leicht gekürzt) in der «Südostschweiz» vom 15.05.2014.

In seinem Buch über das Bergell und seine Bewohner schrieb Renato Stampa einst: «Der Bergeller gleicht seinen stolzen Granitgipfeln, die den blauen Himmel berühren und heiter in die weitesten Horizonte schauen, aber auch den Schneestürmen und Orkanen trotzen, die sich dort entfesseln.»

Es gibt wohl keine bessere Beschreibung, um Zaccaria Giacometti zu charakterisieren. In der stürmischen Zeit des Zweiten Weltkriegs machte sich der Staatsrechtler aus dem Bergell als Kämpfer gegen das Vollmachtenregime einen Namen. Gleich einem Granitfelsen inmitten eines Orkans stellte er sich gegen das autoritäre Gebaren der Bundesbehörden – im Blick stets die Ideale von Rechtsstaat und Demokratie. Dem Leben und Schaffen des eigenwilligen Juristen widmet sich ein neues Buch[1].

Bekannt ist der Name Giacometti vor allem in der Kunstwelt. Tatsächlich ist der 1893 geborene Zaccaria mit den berühmten Künstlern verwandt: Die Maler Alberto und Diego sowie der Architekt Bruno waren seine Cousins, der Maler Giovanni sein Onkel und der Maler Augusto ein Cousin über die väterliche Linie. Giovanni und Alberto malten mehrere Portraits von ihm. Sie zeigen Zaccaria Giacometti meist in Gedanken versunken, manchmal lesend, aber stets ernst und nachdenklich.

Mit den Künstlern Giacometti habe Zaccaria mehr als nur den Nachnamen gemein, sagt der Autor der Biografie, der Zürcher Staatsrechtler Andreas Kley. «Wenn man Zaccaria Giacometti liest, spürt man eine grosse Intensität des Schaffens – ganz ähnlich wie bei seinem Cousin Alberto», erklärt er im Gespräch.

Prägende Herkunft

Bereits mit 14 Jahren verliess Zaccaria Giacometti das Bergell, um zunächst das Gymnasium in Schiers zu besuchen und später in Basel und Zürich zu studieren. Dennoch prägte ihn seine Heimat ein Leben lang. Das zeigt sich auch in seinen Werken: Beispielsweise machte ihn die Herkunft aus dem protestantischen Bergell zu einem vehementen Gegner des politischen Katholizismus. Mehrmals sprach er sich etwa gegen die Wiedererrichtung der päpstlichen Nuntiatur aus.

Angesichts dieser Haltung erscheint es etwas paradox, dass Giacometti gleichzeitig tief fasziniert war vom katholischen Kirchenrecht. Er sah dieses als abgeschlossenes und in sich logisches Rechtssystem, das ihm als Vorbild für das «weltliche» Recht diente.

Das ist allerdings nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn Giacometti machte eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Rechtssystem der katholischen Kirche und ihrer politischen Position, die er als Bedrohung für die Demokratie betrachtete.

Der Kampf gegen autoritäre Tendenzen blieb eine Leidenschaft von Giacometti, der 1927 im Alter von gerade einmal 34 Jahren zum Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich ernannt wurde. Und an solchen Tendenzen sollte es auch in den folgenden Jahren nicht mangeln. Es war eine Zeit, in der demokratische Staaten in ganz Europa in den Faschismus oder den Kommunismus abglitten.

In dieser Zeit nahmen die Bedrohungen für die Demokratie auch in der Schweiz zu. 1939 – unmittelbar vor dem deutschen Angriff auf Polen – liess sich der Bundesrat vom Parlament mit umfangreichen Notrechtskompetenzen ausstatten. Der Entscheid markierte den Beginn des Vollmachtenregimes. Während Jahren betätigte sich die Regierung praktisch in Eigenregie als Gesetzgeber. Sie beschnitt die Gewerbefreiheit, schränkte Liegenschaftsverkäufe ein und erlaubte der Armeeführung weitreichende Eingriffe in die Pressefreiheit.

Direkte Demokratie eingeschränkt

Die Gesetze, welche die Bundesversammlung noch selbst beschloss, stellte sie häufig unter Dringlichkeitsrecht und schaltete damit die Möglichkeit eines Referendums aus. Die damals vorherrschende Haltung auf den Punkt brachte ein Ständerat, der in der Debatte über ein Gesetz zur Lebensmittelversorgung sagte: «Die Vorlage, welche vor uns liegt, scheint mir doch zu wichtig und zu notwendig zu sein, als dass wir es auf das Referendum oder gar eine Volksabstimmung ankommen lassen dürfen.»

Die Bundesbehörden schränkten die direkte Demokratie immer stärker ein. Eingereichte Volksinitiativen wurden teilweise jahrelang schubladisiert. Viele davon liess der Bundesrat nach langem Warten abschreiben, sie kamen damit gar nie zur Abstimmung.

Diese Praktiken waren mit der Bundesverfassung kaum zu vereinbaren. Doch die militärische Bedrohungslage und die viel beschworene Notwendigkeit der nationalen Einheit liessen rechtsstaatliche Bedenken verstummen. Nur wenige Juristen stellten sich gegen das Vollmachtenregime – und kaum einer tat das so hartnäckig wie Zaccaria Giacometti. In Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln geisselte er unermüdlich die Notrechtspraxis der Bundesbehörden. Er kritisierte vor allem, dass die Vollmachtenbeschlüsse der Regierung viel zu weit gingen und praktisch keiner Kontrolle unterworfen waren. Darüber hinaus verstiessen sie aus seiner Sicht gegen die Bundesverfassung.

Die Befürworter des Vollmachtenregimes und sogar der Bundesrat gaben implizit selbst zu, dass die verfassungsmässige Grundlage schwach war. Sie wischten diesen Mangel aber mit dem Verweis auf die dringende Notwendigkeit der Massnahmen beiseite. So betonte Bundesrat Edmund Schulthess in einer vielbeachteten Rede, die Regierung müsse in Krisensituationen «ohne Verzug» handeln. Zu diesem Zweck müsse sie sich auf Notrecht abstützen, «und sollten wir es aus den Sternen holen müssen». Dieses Argument liess Giacometti indes nicht gelten. Für ihn stand fest: «Es gibt keine Legalität ausserhalb der Bundesverfassung.»

Mit seinem Widerstand gegen die Regierung machte sich der Staatsrechtsprofessor nicht nur Freunde, auch unter seinen Fachkollegen. Mit Dietrich Schindler, der an der gleichen Fakultät lehrte, lieferte sich über mehrere Zeitschriftenartikel hinweg einen Streit über die Rechtmässigkeit der Notrechtspraxis.

Wachsende Konsternation

Mit zunehmender Dauer des Vollmachtenregimes wurde Giacometti immer konsternierter über die Missachtung der Verfassung durch die Bundesbehörden. In einer Vorlesung bemerkte er einmal sarkastisch, dass in Bern neben anderen Sehenswürdigkeiten auch die Bundesverfassung gezeigt werde; die Besucher bekämen dort allerdings nur ein Loch zu sehen.

Die Geschichte sollte Giacometti schliesslich recht geben. 1949 kam die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» zur Abstimmung. Sie wollte das Dringlichkeitsrecht, von dem das Parlament nach Kriegsende weiterhin rege Gebrauch machte, einschränken. Gegen den Widerstand des Bundesrats und aller grossen Parteien stimmte das Volk der Initiative zu. Drei Jahre später hob das Parlament schliesslich die letzten Vollmachtenerlasse des Bundesrats auf und beendete damit das Vollmachtenregime endgültig.

Obwohl Zaccaria Giacometti zu seiner Zeit eine landesweit bekannte Persönlichkeit war, ist die Erinnerung an ihn inzwischen weitgehend verblasst. Zu Unrecht, findet Andreas Kley. «Giacometti hatte eine klare Haltung und stand konsequent für den liberalen Rechtsstaat ein.» Solche Stimmen bräuchte es auch heute mehr, sagt Kley und denkt dabei etwa an die UBS-Rettung 2008, als der Bundesrat per Notrechtsverordnung 6 Milliarden Franken in die Grossbank einschoss. «Solche Massnahmen hätte Giacometti wohl ebenso kritisiert wie damals das Vollmachtenregime.»

 

Veranstaltungshinweis

Eine Vernissage des Buches findet am 19. Mai in Zürich (18.15 Uhr, Universität, Hörsaal RAI-G-041), am 2. Juni in Bern (18.15 Uhr, Haus der Universität) sowie am 19. Juli in Coltura (17 Uhr, Palazzo Castelmur) statt.


[1] Andreas Kley: Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Verlag Schulthess.

Nichts zu feiern am 1. August

Am kommenden Mittwoch ist es wieder so weit: Inmitten von Feuerwerk, Böllern und Rabattaktionen begeht die Schweiz ihren Nationalfeiertag. Politiker von rechts bis links besinnen sich in mehr oder weniger originellen Reden auf die Ursprünge des Landes und beschwören die Tugenden unserer Vorväter.

Dabei ist die die Bedeutung des 1. Augusts 1291 für die Schweizer Geschichte mehr als zweifelhaft. Das scheint bei den Feierlichkeiten auch gar keine Rolle zu spielen. Der 1. August ist nur ein weiterer Mythos im schweizerischen Selbstverständnis. Und beim Zelebrieren von Mythen möchte man sich möglichst gar nicht durch Fakten stören lassen.

Der Blick auf die historische Tatsachen lohnt sich trotzdem, denn er fördert interessante Einsichten über das nationale Bewusstsein der Schweizer zutage. Vor allem zeigt er aber, dass der 1. August als Nationalfeiertag zwar diffuse Sentimentalitäten zu befördern vermag, jedoch denkbar ungeeignet ist, die Errungenschaften des Landes zu würdigen.

Erstens sind vom Bundesbrief wenig mehr als das Jahr und die beteiligten Parteien bekannt. Schon das genaue Datum kennen wir nicht. Auch ist unklar, welche Bedeutung dieses Dokument damals hatte, denn aus dem gleichen Zeitraum stammt eine Reihe weiterer Verträge. Angesichts der unklaren Faktenlage die Gründung der Schweiz an diesem Papier festzumachen, ist mindestens fragwürdig.

Zweitens hat am 1. August genaugenommen nur die Innerschweiz etwas zu feiern. Denn bei der «Gründung» der Schweiz anno 1291 waren lediglich drei der heute 23 Stände vertreten. Unter anderem fehlten die gesamte romanische und protestantische Schweiz. Erst nach und nach kamen weitere Kantone hinzu.

Selbst als die Eidgenossenschaft sich auf ihre heutige Grösse ausgedehnt hatte, waren sich die einzelnen Gebiete nicht gleichgestellt. Aargau, Thurgau, die Waadt und das Tessin waren Untertanengebiete ohne Rechte. Andere Kantone konnten beispielsweise in der Aussenpolitik nicht mitreden. Erst mit der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde die Gleichheit der Kantone dauerhaft festgesetzt.

Drittens kann man bei der Unterzeichnung des Bundesbriefs kaum von der Gründung einer Nation sprechen. Vielmehr handelte es sich bei der Eidgenossenschaft zunächst um ein einfaches Bündnis eigenständiger Gebiete. Ähnlich der Nato umfasste der Pakt die Pflicht der Vertragsparteien, sich untereinander nicht anzugreifen und sich bei Angriffen von aussen gegenseitig Beistand zu leisten. In der Praxis funktionierte das allerdings nicht immer nach Plan. So rief Bern, als es 1798 von den Franzosen angegriffen wurde, die anderen Kantone vergeblich um Unterstützung an. Diese waren nicht bereit, für den hoffnungslosen Kampf eigene Soldaten zu opfern, so dass Napoleon Bonaparte die Schweiz ohne Mühe unter seine Kontrolle bringen konnte.

Viertens – und das ist das Entscheidende – haben die Grundwerte der Schweiz wenig bis gar nichts mit dem 1. August zu tun. Selbst wenn man die bisher genannten Punkte als unbedeutende historische Details abtut, ist damit noch nicht erklärt, weshalb wir die Errungenschaften der Schweiz, die wir jedes Jahr feiern, mit dem Jahr 1291 in Verbindung bringen. Die Demokratie, der liberale Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, der föderalistische Bundesstaat – dies alles lag 1291 noch in weiter Ferne.

Natürlich waren sich dessen auch die liberalen Politiker des 19. Jahrhunderts bewusst. Die Wahl des 1. Augusts als Nationalfeiertag war damals eine Konzession an die katholisch-konservativen Gegner des Bundesstaats, die man nicht unnötig verärgern wollte, indem man sie am Nationalfeiertag an die Niederlage im Bürgerkrieg erinnerte.

Heute allerdings sind die tiefen ideologischen Gräben von damals überwunden. Es gibt somit keinen Grund mehr, am Nationalfeiertag an ein zweifelhaftes Ereignis in der dunklen Frühzeit der Schweizer Geschichte zu erinnern. Natürlich hat auch das Jahr 1291 seine historische Bedeutung für unser Land. Doch um die Grundwerte, auf denen die heutige Schweiz fusst, zu würdigen, ist nur ein Datum wirklich angemessen: Der 12. September – der Tag der Bundesstaatsgründung 1848.

 

 

Update 6.9.2012: Der Schriftsteller Alex Capus nimmt sich des Themas in einem Artikel in der heutigen WOZ an.