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Wie das Tessin zum Schweizer Proporzpionier wurde

Logo_Serie_TrouvaillenImmer wieder war das Tessin im 19. Jahrhundert Schauplatz hitziger Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen. Den Frieden brachten schliesslich zwei Neuerungen, die den Kanton zum Vorbild für die ganze Schweiz machen sollten.

In keinem anderen Kanton war im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen derart heftig wie im Tessin. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war der Putsch von 1890, der den Kanton an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Am Ursprung der blutigen Ereignisse stand das Wahlrecht – dieses sollte sich zugleich als der Schlüssel zur Befriedung des Konflikts herausstellen.

1830 nahm das Tessin ein erstes Mal eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein, als es als erster Kanton eine liberale Regenerationsverfassung in Kraft setzte. Diese basierte auf den Ideen der französischen Revolution und proklamierte Freiheit, Gleichheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Gegen diese Grundsätze formierte sich bald Widerstand kirchentreuer Konservativer.

Die beiden politischen Blöcke lieferten sich in der Folge einen erbitterten Streit um die Macht, bei dem beide Seiten wenig zimperlich vorgingen. So enteignete die radikale Regierung 1848 – als infolge der Gründung des Bundesstaats die Zolleinnahmen wegfielen – kurzerhand die Klöster, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. 1855 ging sie noch weiter, als sie den verhassten Klerus vom Wahlrecht ausschloss, ein klarer Widerspruch zur Bundesverfassung.

Das geltende Wahlsystem verstärkte die Polarisierung. Gewählt wurde das Parlament – wie damals üblich – im Majorzsystem, und zwar in 38 Wahlkreisen mit je 3 Sitzen. Das Mehrheitssystem hatte den bekannten Effekt, dass kleine Unterschiede an erhaltenen Stimmen die Kräfteverhältnisse im Kanton gänzlich umkehren konnten. Umso erbitterter kämpften die beiden Parteien um die Macht, weil der Mehrheit im Parlament alles, der Minderheit nichts zukam. Ein italienischer Besucher beschrieb die politische Kultur so: «Bei jedem Machtwechsel im Kanton Tessin unterdrückt die Siegerpartei moralisch alle Anhänger der Besiegten und besetzt alle Ämter, auch die geringsten, mit den eigenen Parteigängern.»[1]

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1875 nahmen die Spannungen weiter zu. Die unterlegenen Radikalen reichten beim Bundesrat Rekurs gegen die Grossratswahlen ein mit der Begründung, durch das Wahlsystem benachteiligt zu werden. Tatsächlich verletzte dieses den Grundsatz der politischen Gleichheit in grober Weise, weil die einzelnen Wahlkreise zwar unterschiedlich grosse Bevölkerungen zählten, trotzdem aber alle Anrecht auf genau drei Sitze hatten.[2] Bevorteilt wurden vor allem kleine Kreise in den Tälern, wo die Konservativen besonders stark waren.[3]

Auch der Bundesrat sah die Verfassung durch das Tessiner Wahlsystem verletzt, sah sich aber nicht dafür zuständig und überwies die Angelegenheit an die Bundesversammlung, das den fraglichen Artikel in der Tessiner Verfassung schliesslich ausser Kraft setzte.

Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen Wahlsystems verschärfte den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter. 1876 kam es in Stabio zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit mehreren Todesopfern. Daraufhin intervenierte der Bundesrat und sendete zum ersten Mal einen Kommissär ins Tessin. Unter seiner Vermittlung einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die Wahlen von 1879 um zwei Jahre vorzuverschieben und unter einem neuen Wahlsystem durchzuführen, das die Sitze nach Massgabe der Bevölkerung auf die Wahlkreise verteilte.

Vom Regen in die Traufe

Die Konservativen gewannen die Wahlen erneut und machten sich sogleich daran, ihre Macht zu sichern. Mit der Mehrheit im Grossen Rat konnten sie die Wahlkreise nach Belieben einteilen und griffen dabei zur mehrfach bewährten Methode des «Gerrymandering». So teilte sie dem Wahlkreis Gambarogno, der bis dahin zuverlässig liberal gewählt hatte, die beiden konservativen Gemeinden Gordola und Cugnasco zu, woraus sich ein Wahlkreis mit vier Sitzen ergab, die fortan alle an die Konservativen fielen. Angesichts solcher Manipulationen[4] bezeichnete der Jurist Albert Schneider in einem Bericht die Wahlgeografie im Kanton Tessin als «artifiziell und monstruös».[5] Hinzu kam, dass für die Berechnung der Sitzzahlen auch Bürger gezählt wurden, die längst nicht mehr in der Gemeinde wohnten. Das gab den mehrheitlich konservativen Gemeinden in den Tälern, deren Einwohner vielfach nach Italien emigriert waren, zusätzliches Gewicht.

Für die Liberalen war die Änderung des «ungerechten» Wahlsystems somit ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Exemplarisch zeigte sich dies bei den Wahlen 1889, bei denen die Konservativen mit 51 Prozent der Stimmen 69 Prozent der Sitze im Grossen Rat holten.[6] Die radikale Zeitung «Il Dovere» (die heutige «La Regione») kommentierte sarkastisch: «Es lebe die Gleichberechtigung!»

Das Wahlresultat bestätigte die Liberalen in ihrer Befürchtung, trotz ausgeglichener Kräfteverhältnisse auf lange Frist von der Macht ausgeschlossen zu bleiben. Ihre Empörung entlud sich zunächst in der rekordverdächtigen Zahl von 726 Rekursen, die gegen das Ergebnis beim Bundesrat eingingen. Bald schon griffen sie allerdings zu drastischeren Mitteln: Am 11. September 1890 stürmte eine Gruppe radikaler Aufständischer das Regierungsgebäude in Bellinzona und verhaftete die anwesenden Regierungsmitglieder. Im Getümmel wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss getötet. Die Revolutionäre riefen eine provisorische Regierung aus und setzten das Parlament ab.

Oberst Arnold Künzli

Oberst Arnold Künzli.

Der Bundesrat reagierte sofort und beschloss eine Bundesintervention. Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone – die gerade einen WK in der Nähe leisteten – unter der Führung von Nationalrat und Oberst Arnold Künzli ins Tessin. Er hatte den Auftrag, die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Am 12. September trafen Künzlis Truppen mit einem Sonderzug in Bellinzona ein. Er ermahnte das Volk zunächst in einer Proklamation zur Ruhe und machte sich dann daran, die verhafteten Staatsräte wieder auf freien Fuss zu setzen.

Dann allerdings kam es zu einem Missverständnis, das beinahe folgenschwer gewesen wäre. Der Bundesrat hatte Künzli nämlich in einer ergänzenden Weisung am 13. September beauftragt, ihm «zu berichten, in welchem Momente die gesprengte Regierung im Stande und gewillt sei, ihre Funktionen wieder auszuüben». Künzli leitete daraus die Aufforderung ab, die konservative Regierung wieder einzusetzen. Das, so seine Befürchtung, würde jedoch neue Unruhen und Blutvergiessen zur Folge haben. Künzli telegrafierte nach Bern, der Auftrag erscheine ihm «so folgenschwer, ernst und bedenklich für Zukunft des Kantons und der Eidgenossenschaft, dass ich meinen Namen mit dieser Massregel nicht verknüpfen kann». Der Oberst verweigerte den Befehl und ersuchte den Bundesrat um Entlassung als Kommissär.

Die Regierung antwortete umgehend und erklärte: «Wir haben Sie nicht beauftragt, die alte Regierung wieder einzusetzen, sondern über die Frage zu berichten, in welchem Moment dieselbe im Stande und Willens sei, die Staatsgeschäfte wieder an die Hand zu nehmen.» Der Bundesrat lehnte das Demissionsgesuch ab, nicht ohne aber Künzli zu ermuntern: «Wir verkennen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe nicht, appellieren aber an Ihren Patriotismus.»

In der Folge setzte Künzli die provisorische Regierung ab und setzte die von den Liberalen verlangte Abstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Nachdem das Volk dieser am 5. Oktober zugestimmt hatte, ging es nun darum, ein politisches System zu finden, das dem Kanton endlich friedliche und stabile Verhältnisse bringen würde. Oberst Künzli sollte recht behalten mit seinen Worten, die er bereits kurz nach seiner Ankunft im Tessin geäussert hatte: «Frieden und bessere Zustände können nur wiederkehren, wenn jede Partei die Vertretung in den administrativen und richterlichen Behörden erhält, die ihr nach ihrer Stärke gebührt, und wenn die vernünftigen Theile beider Parteien auf dieser Grundlage zu einer Verständigung gelangen.»

«Zu kompliziert»

Auf Anregung von Künzli organisierte der Bundesrat eine Reihe von Versöhnungskonferenzen zwischen den zerstrittenen Fraktionen und versuchte einen Kompromiss zwischen ihnen zu vermitteln. Zunächst verlangte die bundesrätliche Delegation die Wahl einer «gemischten Regierung», also eines Staatsrats, der aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt ist.

Was das Wahlsystem angeht, verzichtete der Bundesrat zunächst auf eine konkrete Empfehlung und sprach sich stattdessen grundsätzlich für ein System aus, das «die gerechte Vertretung der Parteien» gewährleisten würde. Die Einführung des Proporzsystems wurde im Grossen Rat diskutiert, allerdings schreckte man davor zurück, da die Anwendung dieses Systems «zu kompliziert» sei und «unser Volk mit der Idee derselben noch zu wenig vertraut» sei, wie es der gemässigt konservative Abgeordnete Agostino Soldati ausdrückte.[7] Die Konservativen schlugen stattdessen das System der «limitierten Stimmabgabe» vor.[8]

Allerdings kam eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene statistische Untersuchung zum Schluss, dass dieses System die konservative Dominanz nur leicht vermindern würde. Weil die Liberalen zudem die limitierte Stimmabgabe ablehnten und damit eine neue Staatskrise drohte, ging der Bundesrat schliesslich in die Offensive und sprach sich offen für das «System der Proportionalvertretung» aus.

Unter dem Druck der Landesregierung stimmten die verfeindeten Parteien den bundesrätlichen Vorschlägen schliesslich zu. Am 5. Dezember 1890 verabschiedete der Grosse Rat ein Gesetz zur Wahl des Verfassungsrats nach dem Proporzsystem.[9] Gleichzeitig wählte er zwei Liberale in den fünfköpfigen Staatsrat (der damals noch nicht vom Volk gewählt wurde). Zum ersten Mal wurde das Tessin im Konkordanzsystem regiert.

Die erstmalige Anwendung des Proporzsystems in der Schweiz verlief allerdings nicht wie gewünscht: Denn die Konservativen versuchten das neue System zu ihrem Vorteil auszunutzen, indem sie in einigen Wahlkreisen mehrere Listen aufstellten in der Hoffnung, damit mehr Sitze zu gewinnen. Die Liberalen waren darüber derart erbost, dass sie die Wahl am 11. Januar kurzerhand boykottierten. Als Folge davon bestand der Verfassungsrat vollständig aus Konservativen. Immerhin führte dieser Verfassungsrat das Proporzsystem auch für die Wahlen des Grossen Rats ein und sorgte damit für eine fairere Verteilung der Parlamentssitze.

Die Debatte über das Wahlsystem war damit im Tessin zwar noch lange nicht abgeschlossen.[10] Fortan wurde diese Debatte aber im Rahmen eines geordneten demokratischen Prozesses ausgetragen. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten der Vergangenheit an.

Vorbild für den Bund

Die Ironie der Geschichte ist, dass der freisinnige Bundesrat den Kanton Tessin zu zwei Neuerungen zwang, denen er sich auf Bundesebene vehement widersetzte: die Proporzwahl und die Konkordanz. Während er die Tessiner Konservativen dazu drängte, den Liberalen eine angemessene Vertretung in der Regierung zuzugestehen, verweigerte er genau das den Konservativen im Bundesstaat. Immerhin wurde 1891 mit Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Auch von einer «gerechten Vertretung der Parteien» im Parlament, wie er sie im Tessin forderte, wollte der Bundesrat im Bezug auf den Nationalrat nichts wissen und sträubte sich bis 1918 dagegen, als das Volk die Proporzwahl der grossen Kammer annahm.

Das doppelte Spiel der freisinnigen Mehrheit in Bundesbern sorgte schon damals für kritische Töne. So klagte der Zürcher Konservative Georg von Wyss 1890 in einem Brief: «Welch trauriges Spektakel, dass die [eidgenössischen] Räte (…) die Tessiner Revolutionäre schützen und für sie Konzessionen fordern, die sie gleichzeitig all jenen verweigern, welche nicht gleich denken wie sie.»[11]

Schliesslich ist noch eine weitere Neuerung im Kanton Tessin aufschlussreich: 1892 führte der Südkanton nicht nur die Volkswahl der Regierung (nach dem Proporzverfahren) ein, sondern auch die Möglichkeit, dieselbe mittels Volksabstimmung abzuberufen. Diese Reform wurde explizit damit begründet, dass dadurch gewaltsame Umstürze verhindert werden könnten.

Dieser Beitrag ist der sechste Teil der (unterdessen endlosen) Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

 


[1] Dossi, Carlo (1964): Note azzurre, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[2] Gemäss dem Bundesrat hatte etwa eine Stimme im Kreis Levizzara fast sechsmal mehr Gewicht als eine in Lugano. Quelle: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[3] Die Liberalen, die sich nun darüber beklagten, hatten es aber offenbar nicht für nötig befunden, während ihrer über 30 Jahre an der Macht das Wahlsystem anzupassen.

[4] Für weitere Beispiele siehe Ghiringhelli, Andrea (1995): Il cittadino e il voto.

[5] Schneider, Albert (1889): Rapporto sui ricorsi concernenti le elezioni al Gran Consiglio presentato all’alto Consiglio Federale, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[6] Die Konservativen erhielten 12’653 Stimmen und 77 Sitze, die Liberalen 12’018 Stimmen und 35 Sitze. Quelle: Ghiringhelli (1995).

[7] Man beachte die Parallelen zur Diskussion, die später auf Bundesebene geführt wurde.

[8] Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen (wie sie damals in der Schweiz üblich war) mit der Besonderheit, dass die Wähler weniger Stimmen zur Verfügung haben, als Sitze zu vergeben sind. Das gibt Minderheitsparteien bessere Chancen auf eine Vertretung.

[9] Für die Aufteilung der Sitze auf die Parteien kam das Bruchzahlverfahren (Hare-Niemeyer-Verfahren) zur Anwendung und nicht das Hagenbach-Bischoff-Verfahren, das sich später in den meisten Kantonen und auf Bundesebene durchsetzen sollte. Das Tessin ist heute neben Waadt der einzige Kanton, der sein Parlament nach dem Bruchzahl-Verfahren wählt.

[10] Insbesondere wurde die Zahl der Wahlkreise von 17 kontinuierlich verkleinert, bis 1920 ein Einheitswahlkreis für den ganzen Kanton eingeführt wurde.

[11] Brief an Ernest Naville, zitiert in: Wisler, Dominique (2008): La démocratie genevoise.

Unerschütterlich wie ein Bergeller Granitgipfel

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bedrohte das Vollmachtenregime die schweizerische Demokratie. Einer der wenigen, die sich gegen die autoritären Tendenzen auflehnten, war der Bündner Staatsrechtsprofessor Zaccaria Giacometti. Eine Biografie erinnert an den unbequemen Denker.

Zaccaria Giacometti. (Zeichnung von Alberto Giacometti, 1915)

Zaccaria Giacometti (Zeichnung von Alberto Giacometti, 1915).

Publiziert (leicht gekürzt) in der «Südostschweiz» vom 15.05.2014.

In seinem Buch über das Bergell und seine Bewohner schrieb Renato Stampa einst: «Der Bergeller gleicht seinen stolzen Granitgipfeln, die den blauen Himmel berühren und heiter in die weitesten Horizonte schauen, aber auch den Schneestürmen und Orkanen trotzen, die sich dort entfesseln.»

Es gibt wohl keine bessere Beschreibung, um Zaccaria Giacometti zu charakterisieren. In der stürmischen Zeit des Zweiten Weltkriegs machte sich der Staatsrechtler aus dem Bergell als Kämpfer gegen das Vollmachtenregime einen Namen. Gleich einem Granitfelsen inmitten eines Orkans stellte er sich gegen das autoritäre Gebaren der Bundesbehörden – im Blick stets die Ideale von Rechtsstaat und Demokratie. Dem Leben und Schaffen des eigenwilligen Juristen widmet sich ein neues Buch[1].

Bekannt ist der Name Giacometti vor allem in der Kunstwelt. Tatsächlich ist der 1893 geborene Zaccaria mit den berühmten Künstlern verwandt: Die Maler Alberto und Diego sowie der Architekt Bruno waren seine Cousins, der Maler Giovanni sein Onkel und der Maler Augusto ein Cousin über die väterliche Linie. Giovanni und Alberto malten mehrere Portraits von ihm. Sie zeigen Zaccaria Giacometti meist in Gedanken versunken, manchmal lesend, aber stets ernst und nachdenklich.

Mit den Künstlern Giacometti habe Zaccaria mehr als nur den Nachnamen gemein, sagt der Autor der Biografie, der Zürcher Staatsrechtler Andreas Kley. «Wenn man Zaccaria Giacometti liest, spürt man eine grosse Intensität des Schaffens – ganz ähnlich wie bei seinem Cousin Alberto», erklärt er im Gespräch.

Prägende Herkunft

Bereits mit 14 Jahren verliess Zaccaria Giacometti das Bergell, um zunächst das Gymnasium in Schiers zu besuchen und später in Basel und Zürich zu studieren. Dennoch prägte ihn seine Heimat ein Leben lang. Das zeigt sich auch in seinen Werken: Beispielsweise machte ihn die Herkunft aus dem protestantischen Bergell zu einem vehementen Gegner des politischen Katholizismus. Mehrmals sprach er sich etwa gegen die Wiedererrichtung der päpstlichen Nuntiatur aus.

Angesichts dieser Haltung erscheint es etwas paradox, dass Giacometti gleichzeitig tief fasziniert war vom katholischen Kirchenrecht. Er sah dieses als abgeschlossenes und in sich logisches Rechtssystem, das ihm als Vorbild für das «weltliche» Recht diente.

Das ist allerdings nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn Giacometti machte eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Rechtssystem der katholischen Kirche und ihrer politischen Position, die er als Bedrohung für die Demokratie betrachtete.

Der Kampf gegen autoritäre Tendenzen blieb eine Leidenschaft von Giacometti, der 1927 im Alter von gerade einmal 34 Jahren zum Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich ernannt wurde. Und an solchen Tendenzen sollte es auch in den folgenden Jahren nicht mangeln. Es war eine Zeit, in der demokratische Staaten in ganz Europa in den Faschismus oder den Kommunismus abglitten.

In dieser Zeit nahmen die Bedrohungen für die Demokratie auch in der Schweiz zu. 1939 – unmittelbar vor dem deutschen Angriff auf Polen – liess sich der Bundesrat vom Parlament mit umfangreichen Notrechtskompetenzen ausstatten. Der Entscheid markierte den Beginn des Vollmachtenregimes. Während Jahren betätigte sich die Regierung praktisch in Eigenregie als Gesetzgeber. Sie beschnitt die Gewerbefreiheit, schränkte Liegenschaftsverkäufe ein und erlaubte der Armeeführung weitreichende Eingriffe in die Pressefreiheit.

Direkte Demokratie eingeschränkt

Die Gesetze, welche die Bundesversammlung noch selbst beschloss, stellte sie häufig unter Dringlichkeitsrecht und schaltete damit die Möglichkeit eines Referendums aus. Die damals vorherrschende Haltung auf den Punkt brachte ein Ständerat, der in der Debatte über ein Gesetz zur Lebensmittelversorgung sagte: «Die Vorlage, welche vor uns liegt, scheint mir doch zu wichtig und zu notwendig zu sein, als dass wir es auf das Referendum oder gar eine Volksabstimmung ankommen lassen dürfen.»

Die Bundesbehörden schränkten die direkte Demokratie immer stärker ein. Eingereichte Volksinitiativen wurden teilweise jahrelang schubladisiert. Viele davon liess der Bundesrat nach langem Warten abschreiben, sie kamen damit gar nie zur Abstimmung.

Diese Praktiken waren mit der Bundesverfassung kaum zu vereinbaren. Doch die militärische Bedrohungslage und die viel beschworene Notwendigkeit der nationalen Einheit liessen rechtsstaatliche Bedenken verstummen. Nur wenige Juristen stellten sich gegen das Vollmachtenregime – und kaum einer tat das so hartnäckig wie Zaccaria Giacometti. In Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln geisselte er unermüdlich die Notrechtspraxis der Bundesbehörden. Er kritisierte vor allem, dass die Vollmachtenbeschlüsse der Regierung viel zu weit gingen und praktisch keiner Kontrolle unterworfen waren. Darüber hinaus verstiessen sie aus seiner Sicht gegen die Bundesverfassung.

Die Befürworter des Vollmachtenregimes und sogar der Bundesrat gaben implizit selbst zu, dass die verfassungsmässige Grundlage schwach war. Sie wischten diesen Mangel aber mit dem Verweis auf die dringende Notwendigkeit der Massnahmen beiseite. So betonte Bundesrat Edmund Schulthess in einer vielbeachteten Rede, die Regierung müsse in Krisensituationen «ohne Verzug» handeln. Zu diesem Zweck müsse sie sich auf Notrecht abstützen, «und sollten wir es aus den Sternen holen müssen». Dieses Argument liess Giacometti indes nicht gelten. Für ihn stand fest: «Es gibt keine Legalität ausserhalb der Bundesverfassung.»

Mit seinem Widerstand gegen die Regierung machte sich der Staatsrechtsprofessor nicht nur Freunde, auch unter seinen Fachkollegen. Mit Dietrich Schindler, der an der gleichen Fakultät lehrte, lieferte sich über mehrere Zeitschriftenartikel hinweg einen Streit über die Rechtmässigkeit der Notrechtspraxis.

Wachsende Konsternation

Mit zunehmender Dauer des Vollmachtenregimes wurde Giacometti immer konsternierter über die Missachtung der Verfassung durch die Bundesbehörden. In einer Vorlesung bemerkte er einmal sarkastisch, dass in Bern neben anderen Sehenswürdigkeiten auch die Bundesverfassung gezeigt werde; die Besucher bekämen dort allerdings nur ein Loch zu sehen.

Die Geschichte sollte Giacometti schliesslich recht geben. 1949 kam die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» zur Abstimmung. Sie wollte das Dringlichkeitsrecht, von dem das Parlament nach Kriegsende weiterhin rege Gebrauch machte, einschränken. Gegen den Widerstand des Bundesrats und aller grossen Parteien stimmte das Volk der Initiative zu. Drei Jahre später hob das Parlament schliesslich die letzten Vollmachtenerlasse des Bundesrats auf und beendete damit das Vollmachtenregime endgültig.

Obwohl Zaccaria Giacometti zu seiner Zeit eine landesweit bekannte Persönlichkeit war, ist die Erinnerung an ihn inzwischen weitgehend verblasst. Zu Unrecht, findet Andreas Kley. «Giacometti hatte eine klare Haltung und stand konsequent für den liberalen Rechtsstaat ein.» Solche Stimmen bräuchte es auch heute mehr, sagt Kley und denkt dabei etwa an die UBS-Rettung 2008, als der Bundesrat per Notrechtsverordnung 6 Milliarden Franken in die Grossbank einschoss. «Solche Massnahmen hätte Giacometti wohl ebenso kritisiert wie damals das Vollmachtenregime.»

 

Veranstaltungshinweis

Eine Vernissage des Buches findet am 19. Mai in Zürich (18.15 Uhr, Universität, Hörsaal RAI-G-041), am 2. Juni in Bern (18.15 Uhr, Haus der Universität) sowie am 19. Juli in Coltura (17 Uhr, Palazzo Castelmur) statt.


[1] Andreas Kley: Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Verlag Schulthess.

Nichts zu feiern am 1. August

Am kommenden Mittwoch ist es wieder so weit: Inmitten von Feuerwerk, Böllern und Rabattaktionen begeht die Schweiz ihren Nationalfeiertag. Politiker von rechts bis links besinnen sich in mehr oder weniger originellen Reden auf die Ursprünge des Landes und beschwören die Tugenden unserer Vorväter.

Dabei ist die die Bedeutung des 1. Augusts 1291 für die Schweizer Geschichte mehr als zweifelhaft. Das scheint bei den Feierlichkeiten auch gar keine Rolle zu spielen. Der 1. August ist nur ein weiterer Mythos im schweizerischen Selbstverständnis. Und beim Zelebrieren von Mythen möchte man sich möglichst gar nicht durch Fakten stören lassen.

Der Blick auf die historische Tatsachen lohnt sich trotzdem, denn er fördert interessante Einsichten über das nationale Bewusstsein der Schweizer zutage. Vor allem zeigt er aber, dass der 1. August als Nationalfeiertag zwar diffuse Sentimentalitäten zu befördern vermag, jedoch denkbar ungeeignet ist, die Errungenschaften des Landes zu würdigen.

Erstens sind vom Bundesbrief wenig mehr als das Jahr und die beteiligten Parteien bekannt. Schon das genaue Datum kennen wir nicht. Auch ist unklar, welche Bedeutung dieses Dokument damals hatte, denn aus dem gleichen Zeitraum stammt eine Reihe weiterer Verträge. Angesichts der unklaren Faktenlage die Gründung der Schweiz an diesem Papier festzumachen, ist mindestens fragwürdig.

Zweitens hat am 1. August genaugenommen nur die Innerschweiz etwas zu feiern. Denn bei der «Gründung» der Schweiz anno 1291 waren lediglich drei der heute 23 Stände vertreten. Unter anderem fehlten die gesamte romanische und protestantische Schweiz. Erst nach und nach kamen weitere Kantone hinzu.

Selbst als die Eidgenossenschaft sich auf ihre heutige Grösse ausgedehnt hatte, waren sich die einzelnen Gebiete nicht gleichgestellt. Aargau, Thurgau, die Waadt und das Tessin waren Untertanengebiete ohne Rechte. Andere Kantone konnten beispielsweise in der Aussenpolitik nicht mitreden. Erst mit der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde die Gleichheit der Kantone dauerhaft festgesetzt.

Drittens kann man bei der Unterzeichnung des Bundesbriefs kaum von der Gründung einer Nation sprechen. Vielmehr handelte es sich bei der Eidgenossenschaft zunächst um ein einfaches Bündnis eigenständiger Gebiete. Ähnlich der Nato umfasste der Pakt die Pflicht der Vertragsparteien, sich untereinander nicht anzugreifen und sich bei Angriffen von aussen gegenseitig Beistand zu leisten. In der Praxis funktionierte das allerdings nicht immer nach Plan. So rief Bern, als es 1798 von den Franzosen angegriffen wurde, die anderen Kantone vergeblich um Unterstützung an. Diese waren nicht bereit, für den hoffnungslosen Kampf eigene Soldaten zu opfern, so dass Napoleon Bonaparte die Schweiz ohne Mühe unter seine Kontrolle bringen konnte.

Viertens – und das ist das Entscheidende – haben die Grundwerte der Schweiz wenig bis gar nichts mit dem 1. August zu tun. Selbst wenn man die bisher genannten Punkte als unbedeutende historische Details abtut, ist damit noch nicht erklärt, weshalb wir die Errungenschaften der Schweiz, die wir jedes Jahr feiern, mit dem Jahr 1291 in Verbindung bringen. Die Demokratie, der liberale Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, der föderalistische Bundesstaat – dies alles lag 1291 noch in weiter Ferne.

Natürlich waren sich dessen auch die liberalen Politiker des 19. Jahrhunderts bewusst. Die Wahl des 1. Augusts als Nationalfeiertag war damals eine Konzession an die katholisch-konservativen Gegner des Bundesstaats, die man nicht unnötig verärgern wollte, indem man sie am Nationalfeiertag an die Niederlage im Bürgerkrieg erinnerte.

Heute allerdings sind die tiefen ideologischen Gräben von damals überwunden. Es gibt somit keinen Grund mehr, am Nationalfeiertag an ein zweifelhaftes Ereignis in der dunklen Frühzeit der Schweizer Geschichte zu erinnern. Natürlich hat auch das Jahr 1291 seine historische Bedeutung für unser Land. Doch um die Grundwerte, auf denen die heutige Schweiz fusst, zu würdigen, ist nur ein Datum wirklich angemessen: Der 12. September – der Tag der Bundesstaatsgründung 1848.

 

 

Update 6.9.2012: Der Schriftsteller Alex Capus nimmt sich des Themas in einem Artikel in der heutigen WOZ an.