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Was tun gegen die Überpopulation der Abgeordneten des Bundestags?

Das Wahlsystem für den deutschen Bundestag ist international angesehen, weil es Persönlichkeitswahl und proportionale Sitzverteilung kombiniert. Allerdings hat diese Kombination zu einer Aufblähung des Parlaments geführt. Die Politik versucht sich nun an einem neuen Anlauf für eine Reform.

Abgeordneter im deutschen Bundestag ist ein Beruf mit hoher Arbeitsplatzsicherheit. Denn es werden laufend neue Stellen geschaffen. Das Grundgesetz sieht eigentlich die Zahl von 598 Sitzen vor. In den Wahlen der jüngeren Vergangenheit wurde diese Vorgabe aber immer – und immer deutlicher – überschritten. 2009 umfasste der Bundestag 622 Sitze (also 24 «zu viel»), 2013 waren es schon 631, und seit 2017 sitzen bereits 709 Parlamentarier im Saal. Und ein Ende des Wachstums ist nicht abzusehen. Wären heute Wahlen, wäre basierend auf Umfragen eine Parlamentsgrösse von bis zu 800 Sitzen zu erwarten, wie die Webseite mandatsrechner.de kalkuliert hat.

Das Beste aus beiden Welten

Der Grund für die Aufblähung des Parlaments liegt in der Spezialität des deutschen Wahlsystems, das Mehrheits- und Verhältniswahlrecht kombiniert. Dieses Prinzip kann, richtig umgesetzt, «das Beste aus beiden Welten» in einem Verfahren vereinigen, weshalb das deutsche Wahlrecht anderen Demokratien verschiedentlich als Vorbild gedient hat.

Bundestagswahl Stimmzettel

Wahlzettel für die Bundestagswahl 2005. (Quelle: Wikipedia)

Konkret haben die Wähler jeweils zwei Stimmen: Mit der ersten wählen sie einen Kandidaten für den jeweiligen (Einer-)Wahlkreis, mit der zweiten eine Partei.[1] 299 Sitze – die Hälfte von 598 – werden als Direktmandate vergeben. Dabei ist das relative Mehr massgebend, was zu gewissen Verzerrungen führen kann. Diese werden aber insofern abgeschwächt, als die Verteilung der Sitze auf die Parteien nach dem Proporz auf Basis der Zweitstimmen geschieht (wobei das Divisorverfahren mit Standardrundung zur Anwendung kommt).[2] Die Direktmandate werden den einer Partei zustehenden Sitzen (gemäss Proporz) angerechnet. Wenn also eine Partei in einem Bundesland Anspruch auf 10 Sitze hat und 7 Direktmandate gewinnt, schickt sie aus diesem Land 7 direkt gewählte und 3 Kandidaten von der Landesliste nach Berlin.

Kritisch wird es nun, wenn eine Partei mehr Sitze als Direktmandate gewinnt, als ihr gemäss Proporz zustehen, im obigen Fall also beispielsweise 11. Die so entstehenden sogenannten Überhangmandate darf sie behalten. Lange Zeit konnte eine Partei dadurch mehr Mandate erlangen als ihr nach Proporz zustanden. Mehr noch: Es konnte sein, dass eine Zweitstimme zugunsten einer Partei dieser schadete, weil sie dadurch ein Überhangmandat verlor (man spricht in diesem Zusammenhang von negativem Stimmgewicht).

Umwälzung der Parteienlandschaft

Praktisch waren solche Szenarien lange Zeit kaum relevant, weil die deutsche Politik von wenigen Parteien dominiert wurde, insbesondere von Union und SPD, die jeweils genug Zweistimmen holten, um ihre Direktmandate problemlos darin «unterzubringen».

Nach der Wiedervereinigung wurde das deutsche Parteiensystem jedoch vielfältiger und die traditionellen Volksparteien büssten ihre Übermacht ein. Dadurch haben auch die Überhangmandate eine höhere Bedeutung erlangt.

2008 entschied das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil, dass die durch Überhangmandate entstehenden Verzerrungen eliminiert werden müssten. Daraufhin beschloss die damals regierende Koalition von Union und FDP ein neues Gesetz, das aber verfassungsrechtlich unsauber war und vom Verfassungsgericht kurze Zeit später ebenfalls für verfassungswidrig erklärt wurde. Schliesslich kam gerade noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2013 ein parteiübergreifender Kompromiss zustande. Das seither geltende Gesetz schreibt vor, dass Überhangmandate kompensiert werden müssen. Wenn eine Partei in einem Land mehr Sitze aus Direktmandaten erhält als ihr aufgrund der Zweitstimmenanteile zustehen, wird einfach die Gesamtsitzzahl erhöht, bis die Übervertretung dieser Partei nicht mehr besteht.[3] Damit hat man ein Problem (Verzerrung der Proportionalität) durch ein neues (Aufblähung des Parlaments) ersetzt.[4]

Seither grübelt die Politik darüber, wie man dieses Problem in den Griff bekommen könnte. Nachdem ein Vorschlag des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert 2016 gescheitert ist, hat sein Nachfolger Wolfgang Schäuble eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die einen neuen Anlauf für eine mehrheitsfähige Reform sucht. Bis Ostern, so kündigte Schäuble an, soll ein Vorschlag auf dem Tisch liegen.

Ein Strauss von Optionen

In welche Richtung könnte dieser gehen? Eine Möglichkeit wäre die Reduktion der Anzahl Direktmandate. Je weniger Direktmandate es gibt, desto weniger Überhangmandate entstehen. Zwar könnte man argumentieren, dass dadurch das Majorz-Element gegenüber dem Proporz-Element geschwächt würde. Allerdings ist das faktisch bereits unter dem heutigen System der Fall, weil zusätzliche Sitze ausnahmslos Listenkandidaten und nicht Direktkandidaten zukommen. Der Anteil der Direktmandate liegt deshalb schon heute deutlich unter den eigentlich vorgesehenen 50 Prozent, nämlich aktuell bei gut zwei Fünfteln (299 von 709). Warum nicht von Beginn einen tieferen Anteil festlegen und die Aufblähung des Parlaments vermeiden?

Einige Experten, unter ihnen der in der Schweiz wohlbekannte Mathematiker Friedrich Pukelsheim, schlagen eine Reduktion auf 240 oder gar 200 Direktmandate vor, also zwei Fünftel beziehungsweise ein Drittel der Soll-Grösse von 598.

Das Problem würde damit freilich nicht ganz aus der Welt geschafft, aber erheblich reduziert. Zumindest bei den gegenwärtigen Stärkeverhältnissen der Parteien würden es diese Varianten erlauben, die vom Grundgesetz vorgesehene Soll-Grösse des Bundestags von 598 Sitzen einzuhalten.

Der Preis für die Reduktion der Sitze wäre eine grössere Distanz zwischen Wählern und Repräsentanten. Gibt es weniger Direktmandate, müssen diese logischerweise in grösseren Wahlkreisen vergeben werden.

Der gleiche Makel haftet auch einer zweiten Option an, der Einführung von Zwei-Personen-Wahlkreisen. Die Idee dahinter: Wenn überall zwei statt nur ein Direktvertreter gewählt werden, die Wähler dabei aber weiterhin nur eine Stimme haben, haben kleinere Parteien bessere Chancen auf Direktmandate. Die Verteilung dieser Mandate wäre dadurch proportionaler, womit mutmasslich weniger Korrekturen in Form von Sitzzahlerhöhungen nötig wären.[5] Die Wahlkreise für Direktmandate wären dann aber doppelt so gross wie heute.

Natürlich wären auch grundsätzlichere Änderungen am Wahlsystem denkbar. So wurde schon vorgeschlagen, auf die Verrechnung von Direktmandaten im Listenproporz zu verzichten und ein Grabenwahlsystem anzuwenden.[6] Unter diesem würde zwar weiterhin ein Teil des Bundestag mit Mehrheitswahl, der andere im Proporz gewählt, doch wären diese beiden System völlig voneinander getrennt. Eine gegenseitige Verrechnung der Erst- und Zweitstimmen gäbe es nicht mehr. Damit hätte man das Problem der Überhangmandate nicht mehr, allerdings zum Preis erheblicher Verzerrungen der Proportionalität.

Um die Verhältniswahl mit der Wahl von Personen zu verbinden, könnten auch offene Listen eingeführt werden, wie sie die Schweiz kennt. Diese könnten das Zweistimmenmodell ersetzen, sie wären aber auch als Ergänzung desselben denkbar. Die beiden Modelle sind im Prinzip miteinander kombinierbar, wie das Beispiel des Wahlsystems Bayerns belegt (wobei die Komplexität des Systems dann steigt).

Schliesslich gibt es auch die Idee, das Zweistimmensystem aufzugeben. Ersetzt werden könnte es durch ein Einstimmenmodell, bei dem die Stimme zugleich für die Partei wie auch für deren Direktkandidaten gewertet wird. Ein solches System könnte ergänzt werden durch Einführung einer Ersatzstimme, welche die Zahl der durch die Fünf-Prozent-Hürde verlorenen Stimmen einschränken würde.[7] Ein Einstimmensystem würde allerdings die Möglichkeit der Wahl von Personen einschränken, weil man damit gleichzeitig deren Partei wählen würde. (Dieser Nachteil wird indes durch den Umstand relativiert, dass die Erststimmen die personelle Zusammensetzung des Parlaments schon heute kaum beeinflusst, weil die meisten unterlegenen Direktkandidaten via Landesliste den Sprung ins Parlament dennoch schaffen.)

Hang zur Besitzstandswahrung

Die Analyse dieser Vorschläge zeigt, dass jedes System neben Verbesserungen auch gewisse Nachteile mit sich bringt. Kein Wahlsystem ist perfekt; für die Wahl des «richtigen» Modells ist daher die Gewichtung unterschiedlicher Ansprüche an ein Wahlsystem entscheidend.

Eine Abkehr vom Zweistimmenmodell ist derzeit allerdings kurzfristig nicht realistisch, da sich sämtliche Parteien im Bundestag im Prinzip dahinter stellen. Schäubles Kommission wird daher wohl darauf fokussieren, das bestehende System zu optimieren. Dabei steht sie nicht nur vor dem Problem, dass dieses System schon heute äusserst komplex ist, sondern auch, dass – wie immer bei Wahlrechtsfragen – die persönlichen Interessen von Abgeordneten direkt betroffen sind. Sollte es tatsächlich gelingen, die Zahl der Abgeordneten zu senken, würde ein Sechstel der Parlamentarier Amt und Einkommen verlustig gehen. Viele dürften wenig geneigt sein, sich diesem Risiko auszusetzen.

 


[1] In der Praxis sind indes auch die Wahlen der Direktkandidaten Partei- und nicht Personenwahlen. Siehe Dieter Nohlen (2014): Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Auflage, S. 381.

[2] Die einzige Einschränkung der Proportionalität ist die Sperrklausel: Zugang zur Sitzverteilung erhalten nur Parteien, die mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen oder drei Direktmandate gewinnen.

[3] Eine ausführlichere Übersicht über die Vorgeschichte findet sich bei Florian Gotz und Robert Vehrkamp (2018): «Das Wahlsystem von 2013: Entstehung, Funktionsweise und Reformbedarf», in: Joachim Behnke et al. (Hrsg.): Reform des Bundestagswahlsystems. Bewertungskriterien und Reformoptionen, S. 15-39.

[4] Verschärft wird das Problem durch eine technische Inkonsistenz, durch die die Sitzzahl erhöht wird, selbst wenn dies aufgrund der Verteilung der Direktmandate gar nicht nötig wäre. Siehe Gotz und Vehrkamp 2018, S. 36-38.

[5] Joachim Behnke (2018): «Zweipersonenwahlkreise oder Reduktion der Anzahl der Einpersonenwahlkreise als ‹Catch all›-Reformoptionen», in Behnke et al., insb. S. 147-162.

[6] Gerd Strohmeier (2007): «Ein Plädoyer für die ‹gemässigte Mehrheitswahl›. Optimale Lösung für Deutschland, Vorbild für Österreich und andere Demokratien», in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (3), S. 578-590.

[7] Frank Decker (2018): «Reformen der Stimmgebung. Rückkehr zum Einstimmensystem von 1949 und Einführung einer Ersatzstimme», in Behnke et al., S. 97-136. Siehe auch Björn Benken (2016): «Die Ersatzstimme – ein Instrument, dessen Zeit gekommen ist?», in: Tobias Mörschel (Hrsg.): Wahlen und Demokratie. Reformoptionen des deutschen Wahlrechts., S. 165-180.

Die ultimative Übersicht über die politischen Systeme der Kantone

Eine neue Datenbank bietet eine umfassende Übersicht über Legislativen, Exekutiven und die direkte Demokratie in den Kantonen. Die Übersicht ist frei zugänglich.

Seit einiger Zeit unterhält Napoleon’s Nightmare eine Datenbank über die Wahlsysteme der Kantone für Parlamentswahlen. Sie bietet eine Übersicht über die Regeln, die bei den Wahlen für die kantonalen Parlamente zur Anwendung kommen.

In den vergangenen Monaten haben wir einigen Aufwand betrieben, um die Tabelle um zwei weitere Bereiche der kantonalen Demokratie zu ergänzen: Neben den Regeln für Legislativwahlen haben wir auch jene für die Bestellung der Exekutiven miteinbezogen. Zudem haben wir die verschiedenen Volksrechte in den Kantonen systematisch erfasst.

Entstanden ist eine Übersicht über die politischen Systeme der Kantone, die hier eingesehen werden kann. Wie bisher sind die Tabellen frei zugänglich und editierbar. Wird ein Fehler entdeckt oder können zusätzliche Informationen beigesteuert werden, so kann dies selbständig eingetragen werden. Die Übersicht ist wie bisher auf einer Unterseite des Blogs zugänglich.

Wir werden in unregelmässiger Abfolge verschiedene Aspekte der Vielfalt kantonaler politischer Systeme aufgreifen und in Form von Blogbeiträgen publizieren. Ein erster Artikel, der sich mit den Regierungspräsidien befasste, wurde im vergangenen Herbst veröffentlicht.

Sämtliche Daten dürfen mit Verweis auf die Quelle Napoleon’s Nightmare bzw. napoleonsnightmare.ch beliebig verwendet werden.

Die Redaktion freut sich über Rückmeldungen, Anregungen sowie die Weiterverbreitung und natürlich Mitarbeit bei der Weiterentwicklung dieser Datenbank.

Je grösser die Wahlkreise, desto fairer die Sitzverteilung

Eine Analyse der kantonalen Parlamentswahlen der letzten vier Jahre zeigt den starken Einfluss der Wahlkreisgrösse auf die Mandatsverteilung: Werden die Mandate über den ganzen Kanton hinweg verteilt, ist das Wahlergebnis weniger verzerrt.

Von Lukas Leuzinger, Sandro Lüscher und Claudio Kuster[*]

Seit dem letzten Jahr publiziert das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) zusammen mit dem Bundesamt für Statistik (BFS) eine neue Erhebung zu den Wähleranteilen der Parteien in den kantonalen Parlamenten. Die Daten geben nicht nur erstmals eine präzise Übersicht über die Parteistärken in den Kantonen, sondern bieten auch Möglichkeiten für weitergehende Analysen. So kann beispielsweise die Differenz zwischen dem jeweiligen Wähleranteil und dem Sitzanteil einer Partei berechnet werden. Diese gibt einen Hinweis darauf, wie proportional ein Wahlsystem ist.

Das geläufigste Mass dazu ist der «Index of Disproportionality», der vom Politikwissenschaftler Michael Gallagher entwickelt wurde und der in diesem Blog auch schon Beachtung fand. Der Index berechnet die Disproportionalität im Wesentlichen, indem er für jede Partei die Differenz zwischen ihrem Wähleranteil und ihrem Sitzanteil nimmt, diese quadriert (um grösseren Verzerrungen mehr Beachtung zu schenken) und alle die Werte aufaddiert («Methode des kleinsten Quadrats»).[1] Die neue Statistik lässt nun auch eine präzise Anwendung auf die Kantone zu.[2]

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

 

Die Auswertung der Daten ergibt, dass die Unterschiede zwischen Wähler- und Sitzanteilen der Parteien im Kanton Zürich am kleinsten sind.[3] Der Gallagher-Index-Wert von 0.34 bedeutet eine sehr geringe Disproportionalität, der sich – abgesehen vom verzerrungsarmen Wahlverfahren – aufgrund des schweizweit grössten Parlaments (180 Sitze) ergibt.

Akkurate Abbildung durch Doppelproporz und Einheitswahlkreis

Dahinter folgen mit Zug, Aargau, Tessin, Nidwalden und Schaffhausen weitere fünf Kantone mit tiefen Werten von 0.72 bis 1.07. Dass die Mandatsverteilung in diesen Kantonen ziemlich genau mit den Wähleranteilen der jeweiligen Parteien übereinstimmt, erstaunt ebenfalls nicht. Denn nebst Zürich haben just auch diese Kantone das doppeltproportionale Wahlverfahren (Doppelproporz) eingeführt, welches die Mandate über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien aufteilt. Das Tessin wiederum wählt – als einziger Kanton neben Genf – in einem Einheitswahlkreis. Beide Systeme lassen eine sehr genaue Abbildung der Parteistärken im Parlament zu.

Am unteren Ende der Tabelle, mit Index-Werten zwischen 3.00 und 4.00, finden sich jene Kantone mit vergleichsweise verzerrten, disproportionalen Kantonsratswahlen. Diese wählen durchwegs im herkömmlichen Hagenbach-Bischoff-Verfahren, welches die grösseren Parteien begünstigt. Auch Mindestquoren wie in Wallis, Genf und Basel-Stadt führen zu Verzerrungen – schliesslich gehen dadurch kleineren Parteien, welche diese Hürde nicht erreichen, gleich alle Mandate verlustig.

Zum Vergleich sei an dieser Stelle auch der Gallagher-Index für die Nationalratswahlen erwähnt. Bei den vorletzten Wahlen 2011 betrug er 3.66, heuer 3.70. Das ist sehr hoch – nur einer der 23 untersuchten Kantone liegt darüber. Am disproportionalsten ist das Wahlsystem gemäss der Analyse in Basel-Landschaft, das auf einen Index-Wert von 3.78 kommt. «Schuld» an diesem Spitzenplatz der basellandschaftlichen Wahlen 2015 ist mitunter das Proporzglück der SVP: Mit einem Wähleranteil von 26.7 Prozent ergatterte sie gleich 31.1 Prozent aller Landrats-Mandate (28 von 90) – eine so grosse Differenz zwischen Wähler- und Sitzanteil gibt es sonst nirgends.[4]

Starker Zusammenhang

Zwar ist der Vergleich zwischen Kantonen (ebenso wie zwischen Ländern) auf Grundlage des Gallagher-Index nicht unproblematisch, namentlich deshalb, weil die Zahl der Parteien einen Einfluss auf den Index-Wert hat (je mehr Parteien, desto höher tendenziell die Disproportionalität). Dennoch ist die Frage interessant, ob sich der Einfluss des Wahlsystems statistisch feststellen lässt. Zu diesem Zweck haben wir den Gallagher-Index in Relation zur effektiven durchschnittlichen Wahlkreisgrösse gesetzt. Diese sagt aus, auf wie viele Sitze sich die Anteile der Parteien im Durchschnitt verteilen. In den Kantonen mit Doppelproporz entspricht die effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse der Grösse des Kantonsparlaments, weil die Sitze jeweils über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien verteilt werden (die Unterzuteilung in den Wahlkreisen ändert dann an den gesamtkantonalen Sitzanteilen der Parteien nichts mehr).

Um den Einfluss der Zahl der Parteien auf den Index zu berücksichtigen, wurde zusätzlich für jeden Kanton die effektive Anzahl Parteien berechnet.[5] Anschliessend wurde eine lineare Regression durchgeführt, mit dem Gallagher-Index als abhängige Variable, der effektiven Wahlkreisgrösse als erklärende Variable sowie der effektiven Anzahl Parteien als zweite erklärende Variable bzw. Kontrollvariable.[6]

 

Variable Koeffizient Standardfehler
Effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse -0.016178 0.003476
Effektive Anzahl Parteien 0.443274 0.191682

 

Das Ergebnis stützt die Hypothese, dass die Wahlkreisgrösse einen Einfluss auf die Disproportionalität hat, klar. Gemäss der Berechnung führt eine Erhöhung der durchschnittlichen effektiven Wahlkreisgrösse um 10 Sitze im Durchschnitt zu einem um 0.16 Punkte tieferen Wert des Gallagher-Index (siehe Tabelle). Der Zusammenhang ist stark signifikant, nämlich auf dem 0.1-Prozent-Niveau. Das heisst, dass die effektive Wahlkreisgrösse mit über 99.9-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen negativen Einfluss auf den Gallagher-Index hat.

Die Zahl der Parteien hängt wie erwartet positiv mit dem Gallagher-Index zusammen. Dieser Zusammenhang ist allerdings viel weniger signifikant – und weniger wichtig: Die Wahlkreisgrösse ist für 86.2 Prozent der durch das Modell erklärten Varianz verantwortlich.[7]

 Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher-Index

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse (x-Achse) und Gallagher-Index (y-Achse). Die rote Linie zeigt die lineare Regression.

 

Abbildung 1 veranschaulicht den Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Disproportionalität. Die Verteilung der Werte legt den Schluss nahe, dass der Zusammenhang nicht linear ist, sondern umso stärker ist, je geringer die Wahlkreisgrösse ist. Das macht auch intuitiv Sinn: Eine Erhöhung der Wahlkreisgrösse von 3 auf 6 dürfte die Proportionalität des Wahlsystems deutlich verbessern. Demgegenüber ist der Effekt bei einer Erhöhung von 103 auf 106 Sitze wahrscheinlich nur noch gering.

Abbildung 2: Der Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher Index mit einer quadratischen Regression (schwarze Linie).

 

In Abbildung 2 wird der Einfluss der Wahlkreisgrösse mittels einer quadratischen Regressionskurve (mithilfe von Excel) dargestellt. Sie zeigt tatsächlich einen abnehmenden Effekt.

Quorum macht positiven Effekt zunichte

Natürlich spielen bei der Mandatsverteilung auch noch andere Faktoren eine Rolle. Beispielsweise führt ein gesetzliches Quorum, wie es immerhin zehn Kantone (in sehr unterschiedlicher Höhe) kennen, zu einer weniger proportionalen Verteilung der Mandate. Das erklärt zumindest teilweise den relativ hohen Wert des Gallagher-Index im Kanton Genf, der trotz Einheitswahlkreis im interkantonalen Vergleich im hinteren Mittelfeld rangiert. Auch das Verfahren der Mandatszuteilung (Hagenbach-Bischoff-, Sainte Laguë- oder Bruchzahlverfahren) hat einen Einfluss.

Dennoch kann als Fazit festgehalten werden: Auf je mehr Sitze sich die Parteien in einem Kanton aufteilen, desto proportionaler können ihre Mandate verteilt werden. Wie wir gesehen haben, braucht es dazu nicht zwingend einen Einheitswahlkreis. Auch wenn die Wahlkreise (wie in Zug und Nidwalden) relativ klein sind, ist eine sehr proportionale Verteilung über den ganzen Kanton möglich, indem das doppelproportionale Verfahren zur Anwendung kommt.

 


[*] Dieser Beitrag wurde bereits am 13.05.2015 publiziert und hier in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung wiederveröffentlicht.

[1] Zu beachten ist, dass die Methode lediglich eine Aussage über die Proportionalität einer Mandatsverteilung einer konkreten Wahl macht und nicht aber über die Proportionalität des Wahlsystems an sich. Schliesslich kann auch ein sehr unfaires Wahlsystem durch Zufall die Wähleranteile ziemlich adäquat abbilden. Wie nicht zuletzt dieser Beitrag zeigt, erlaubt der Index dennoch Aussagen zum Wahlsystem.

[2] Für die Kantone Graubünden und die beiden Appenzell, deren Parlamente (weitestgehend) im Mehrheitswahlsystem gewählt werden, liegen keine Daten zu den Wähleranteilen vor, weshalb sie hier nicht berücksichtigt werden können.

[3] Zur Methodik: Untersucht wurden Wähler- und Sitzanteile in 23 Kantonen. Berücksichtigt wurden alle kantonalen Wahlen bis Oktober 2014 (die letzte war jene im Kanton Zug). Die Anteile von Parteien, die als «Übrige» aufgeführt sind, wurden in der Analyse nicht berücksichtigt.

[4] Adrian Vatter hat in seinem Buch «Das politische System der Schweiz» ebenfalls den Gallagher-Index für die Kantone berechnet. Er stützte sich dabei auf etwas weniger präzise Zahlen. Zudem ist der Erhebungszeitpunkt nicht der gleiche wie bei der vorliegenden Analyse. Dennoch kommt er auf vergleichbare Ergebnisse. Gemäss seinen Berechnungen weist der Kanton Tessin die niedrigste Disproportionalität auf (1.6), Uri die höchste (7.0).

[5] Die effektive Anzahl Parteien (effective number of parties) erhält man, indem man die Wähleranteile aller Parteien quadriert, die erhaltenen Werte zusammenzählt und anschliessend den Kehrwert der Summe berechnet.

[6] Für die Berechnung wurde das Statistik-Programm «R» verwendet.

[7] Die vollständige statistische Auswertung ist hier verfügbar.

Das Wahlsystem, das Zürcher Wähler vom Bauchweh befreien (und gleichzeitig den Berner Staatshaushalt um 500’000 Franken entlasten) könnte

Das Verfahren, mit dem in der Schweiz die Ständeräte gewählt werden, hat offensichtliche Mängel. Höchste Zeit, über Alternativen zu diskutieren.

Die SVP-Wähler im Kanton Zürich stehen vor einem Dilemma: Am kommenden Sonntag müssen sie einen zweiten Ständerat bestimmen, und wenn es – aus Sicht der SVP – blöd läuft, wird auch der Zweite aus dem linken Lager kommen. Dann nämlich, wenn sich die Stimmen der bürgerlichen Wähler auf SVP-Kandidat Hans-Ueli Vogt und FDP-Kandidat Ruedi Noser aufteilen, während das linke Lager geschlossen für den Grünen Bastien Girod stimmt und dieser damit obenauf schwingt. Verhindern liesse sich dies am besten, indem sich die bürgerlichen Stimmen auf den aussichtsreicheren Kandidaten konzentrieren – wohl also Ruedi Noser. Sollen also die SVP-Wähler ihren bevorzugten Kandidaten Vogt wählen oder ihn zugunsten von Noser verschmähen, um Girod zu verhindern?

Die Wähler auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden sich im umgekehrten Dilemma: Den meisten SP-Wählern steht Bastien Girod näher als Ruedi Noser. Geben sie ihre Stimme aber Girod, gehen sie das Risiko ein, dass SVP-Kandidat Vogt mit ihrer Mithilfe in den Ständerat gewählt wird. Sollen sie ihrem bevorzugten Kandidaten Girod die Stimme geben oder besser aus taktischen Gründen Noser wählen, um Vogt zu verhindern?

Vor analogen Dilemmata stehen viele Wähler auch im Nachbarkanton Aargau, der ebenfalls am Sonntag seinen zweiten Ständeratssitz besetzt. Wähler aus dem linken politischen Spektrum würden wohl am liebsten CVP-Frau Ruth Humbel wählen, viele von ihnen werden aber versucht sein, stattdessen FDP-Kandidat Philipp Müller zu unterstützen, weil ihnen dieser immer noch lieber ist als SVP-Mann Hansjörg Knecht. Umgekehrt müssen sich SVP-Wähler fragen, ob sie wirklich ihrem eigenen Kandidaten die Stimme geben wollen, wenn dadurch die Chancen der CVP-Kandidatin Humbel steigen.

Einladung zum taktischen Wählen

Den meisten Wähler bereitet es eher Bauchweh als Freude, vor solchen Entscheidungen zu stehen. Leider konfrontiert sie das Wahlsystem, das in den meisten Kantonen[1] für den Ständerat zur Anwendung kommt, immer wieder damit. Es lädt dazu ein, taktisch zu wählen.[2] Umso erstaunlicher, dass es in der öffentlichen Diskussion in den Kantonen kaum einmal in Frage gestellt wird. Dabei gäbe es durchaus Alternativen, die in mehrerer Hinsicht vorteilhaft wären.

Gehen wir beispielsweise einmal davon aus, die Zürcher Wähler könnten nicht einfach einen Namen auf den Wahlzettel schreiben, sondern könnten die drei Kandidaten nach ihren Präferenzen ordnen. In einem einfachen Beispiel sieht das so aus:

 

Wähler A Wähler B Wähler C Wähler D Wähler E
Hans-Ueli Vogt (SVP) 1 1 2 3 3
Ruedi Noser (FDP) 2 2 1 1 2
Bastien Girod (Grüne) 3 3 3 2 1

 

Jeder Wähler hat also angegeben, welcher Kandidat ihm am liebsten ist, aber auch, wen er bevorzugen würde, falls sein Lieblingskandidat nicht gewählt würde.

Wie geht man nun mit diesem Präferenzen um?

  • Zunächst schaut man, ob ein Kandidat von einer Mehrheit der Wähler als erste Wahl angegeben wird. Dieses Vorgehen entspricht jenem in den ersten Wahlgängen der Ständeratswahlen. Das absolute Mehr liegt bei 3 Stimmen. Diese Marke erreicht keiner der drei Kandidaten.
  • Daher wird als zweiten Schritt der Kandidat, der am wenigsten Erstpräferenzstimmen erhalten hat, ausgeschlossen. In diesem Beispiel ist das Bastien Girod. Die Stimmen seiner Wähler gehen jedoch nicht verloren, sondern werden gemäss ihren Präferenzen an die anderen Kandidaten verteilt. In diesem Beispiel hat Bastien Girod nur einen Wähler (Wähler E), dessen zweite Präferenz Ruedi Noser ist. Seine Stimme geht daher an Noser.
  • Nun schaut man erneut, ob jemand das absolute Mehr erreicht hat. In diesem Beispiel hat Noser nun 2+1=3 Stimmen. Er ist damit gewählt.

Dieses Wahlsystem ist unter dem Namen Single Transferable Vote (auch Präferenzwahlverfahren) bekannt.[3] Es kommt unter anderem in Australien, Indien, Irland und Nordirland zur Anwendung.

Nun werden bei Ständeratswahlen in den meisten Kantonen nicht nur ein Sitz, sondern zwei Sitze vergeben. Das System lässt sich aber auch da problemlos anwenden. Dabei muss ein Anteil der Stimmen definiert werden, mit dem ein Kandidat gewählt ist. (In der Regel verwendet man die so genannte Droop-Quote, die bei zwei Sitzen 33.3 Prozent der Stimmen entspricht, es gibt aber auch andere Optionen, etwa die Hare-Quote, die in diesem Fall bei 50 Prozent liegt.) Liegt ein Kandidat darüber, ist er gewählt und seine «übriggebliebenen» Stimmen werden an die anderen Kandidaten verteilt.

Dieses System hat mehrere Vorteile:

  • Erstens kann verhindert werden, dass ein Kandidat nur deshalb gewählt wird, weil sich seine Gegner gegenseitig Stimmen wegnahmen. Dank den Präferenzen, die jeder Wähler angeben kann, ist keine Stimme verloren.
  • Zweitens gibt es viel weniger Anreize, taktisch zu wählen – dadurch fällt auch das Bauchweh weg, das damit verbunden ist. Im obigen Beispiel konnte Wähler E die Stimme seinem bevorzugten Kandidaten geben, ohne befürchten zu müssen, dass er damit seinem am wenigsten bevorzugten Kandidaten zur Wahl verhelfen könnte.
  • Drittens ist schon nach dem ersten Wahlgang klar, wer in den Ständerat einzieht.
  • Viertens sparen sich Wähler und Behörden damit den Aufwand, einen zweiten Wahlgang durchzuführen. So könnte der Kanton Bern, der jedes Jahr über eine Milliarde Franken aus dem Finanzausgleich erhält, seine Staatskasse pro Wahl um 500’000 Franken entlasten (bei den anderen Kantonen dürfte sich der Betrag in ähnlicher Grössenordnung bewegen).

Spätestens das letzte Argument sollte die kostenbewussten Schweizer davon überzeugen, alternative Wahlsysteme zumindest einmal zu prüfen. Denn eine Diskussion darüber fehlte bislang fast gänzlich, trotz der offensichtlichen Nachteile des geltenden Systems.

 


[1] Ausnahmen bilden die Kantone Jura und Neuenburg, die im Proporzverfahren wählen.

[2] Grund dafür ist, dass im zweiten Wahlgang das relative Mehr zur Anwendung kommt, dass also jener Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen hat, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht.

[3] Kommt das System in Einerwahlkreisen zur Anwendung, wird es meist Alternative Vote oder Instant-runoff voting genannt.

Der Machtverlust des Freisinns – und wer davon wirklich profitierte

Die ersten nationalen Wahlen nach dem Proporzsystem brachten erdrutschartige Verschiebungen in der politischen Landschaft der Schweiz. Der Freisinn büsste die absolute Mehrheit im Nationalrat ein, die SP verdoppelte ihre Vertretung. Grosse Siegerin war aber eine andere Partei.

Der Wandel des schweizerischen politischen Systems von der freisinnigen Hegemonie zum Prototyp einer Konsensdemokratie passierte nicht von einem Tag auf den anderen. Der Übergang geschah vielmehr fliessend. Trotzdem gab es für den Verlauf der Geschichte wegweisende Momente, etwa die Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrats Josef Zemp 1891.

Eine Zäsur stellte zweifelsohne auch der Übergang vom Majorz- zum Proporzsystem dar. Das Proporzsystem ist gemäss Arend Lijphart ein typisches Merkmal einer Konsensdemokratie.[1] Wir erinnern uns: Das seit Gründung des Bundesstaats geltende Mehrheitswahlsystem für den Nationalrat begünstigte die freisinnige Familie stark und geriet daher immer stärker unter Beschuss, von den Sozialdemokraten einerseits, aber auch durch die Katholisch-Konservativen andererseits. Nach zwei gescheiterten Versuchen nach der Jahrhundertwende und der sich mit dem Ersten Weltkrieg zuspitzenden sozialen Situation nahmen die Stimmbürger 1918 schliesslich die dritte Volksinitiative «Proporzwahl des Nationalrates» an.[2]

Wie historisch dieser Entscheid war, sollte sich bereits im Jahr darauf zeigen, als vorzeitig Gesamterneuerungswahlen abgehalten wurden.[3] Ein Vergleich der Wahlergebnisse 1917 und 1919 macht die Wirkung des Wahlsystems deutlich (siehe Grafik und Tabelle).[4] Von erdrutschartigen Verschiebungen zu sprechen, ist alles andere als übertrieben, vor allem angesichts der geringen Veränderungen, die eidgenössische Wahlen in der Regel zur Folge haben.

Nationalratsmandate 1917-1919

FDP Demokraten Liberale KVP SP BGB Andere Total
Stimmenanteil 1917 36.8 6.2 4.9 15.9 30.8 ? ? 94.6
Sitze 1917 103 7 12 42 20 4 1 189
Sitzanteil 54.5 3.7 6.3 22.2 10.6 2.1 0.5 100
Stimmenanteil 1919 28.8 2.0 3.8 21.0 23.5 15.3 5.6 100
Sitze 1919 60 8 9 41 41 29 1 189
Sitzanteil 31.7 4.2 4.8 21.7 21.7 15.3 0.5 100

 

Das betrifft vor allem das Ergebnis der Freisinnig-Demokratische Partei (FDP). Im Vergleich mit den letzten Wahlen verlor sie 1919 nicht weniger als 43 Sitze. Hatte sie zuvor noch alleine die absolute Mehrheit aller Stimmen im Nationalrat inne, war sie nun weit davon entfernt.

Die Katholisch-Konservativen (KVP) hatten zwar für das Proporzsystem gekämpft, profitierten allerdings kaum davon: Mit 41 Sitzen erreichten sie etwa dasselbe Resultat wie zwei Jahre zuvor, obschon sie ihren Stimmenanteil deutlich steigern konnten. Das mag damit zusammenhängen, dass das Majorzsystem tendenziell geografisch konzentrierten Parteien entgegenkommt. Dennoch gelang es der KVP, fast alle ihre Sitze in den katholischen Kantonen zu halten. Zudem ermöglichte ihr der Proporz, ein erstes Mandat im reformierten Kanton Zürich zu erringen.

Die Sozialdemokratische Partei (SP), deren Wähler geografisch breiter gestreut waren, profitierte weitaus stärker vom neuen Wahlsystem: Sie verdoppelte ihre Sitzzahl von 20 auf 41. Dennoch waren viele Sozialdemokraten enttäuscht: Sie hatten sich einen grösseren Sprung erhofft. Nach den Wahlen 1917 hatte Robert Grimm, einer der führenden Figuren der SP, erklärt, dass seine Partei bei Anwendung des Proporzes 60 statt 20 Nationalratssitze errungen hätte. Der Sitzgewinn fiel also nur gerade halb so stark aus wie erwartet.

Das neue Wahlsystem stellte auch die Stimmenzähler vor Herausforderungen. Ausschnitt aus einer Fotoreportage in der Zeitschrift «Aufstieg»Quelle: Parlamentsdienste

Das neue Wahlsystem stellte auch die Stimmenzähler vor Herausforderungen. Ausschnitt aus einer Fotoreportage in der Zeitschrift «Aufstieg». (Foto: Parlamentsdienste)

Dass Grimm mit seiner Schätzung so weit daneben lag, hatte laut Historiker Erich Gruner vor allem damit zu tun, dass er das zusätzliche Wählerpotenzial seiner Partei überschätzte und dasjenige der Bürgerlichen unterschätzte. Grimm ging offenbar davon aus, dass viele sozialdemokratisch gesinnte Wähler unter dem alten Majorzsystem eine andere Partei wählten, weil sie ihre Stimme nicht für einen chancenlosen sozialdemokratischen Kandidaten verschwenden wollten (oder weil es gar keine sozialdemokratischen Kandidaten in ihrem Wahlkreis gab). Tatsächlich gewann die SP 1919 gegenüber 1917 aber nur 18’000 Wähler, also etwa 10 Prozent, dazu.

Dafür offenbarten die Wahlen 1919 zusätzliches Wählerpotenzial bei einer Partei, bei der man dies nicht erwartet hatte: der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB)[5]. Bis 1917 hatten Bauern in katholischen Kantonen zumeist katholisch-konservativ, in reformierten Kantonen freisinnig gewählt. Die reformierten Bauern entfremdeten sich allerdings zunehmend vom Freisinn, und da der Proporz erstmals auch kleineren Parteien eine faire Chance auf Mandate gab, erhielten die noch jungen Bauernparteien in den protestantischen Kantonen (insbesondere Zürich, Bern, Schaffhausen, Aargau und Thurgau[6]) plötzlich regen Zulauf: 1917 stellten die Bauernvertreter im Nationalrat laut Gruner bloss 4 Vertreter. 1919 schnellte diese Zahl plötzlich auf 29 hoch. Die Hälfte dieser Sitze fielen im Kanton Bern an, wo die Partei aus dem Stand 15 Mandate[7] holte.

Am stärksten vom Proporz profitiert haben also nicht die Proporzvorkämpfer der SP und der KVP, sondern die BGB. Deren Zuwachs zeigt auch schön die indirekte Wirkung des Proporz: Dieser verteilt die Sitze nämlich nicht nur fairer auf die Parteien. Er hat auch einen Einfluss auf das Verhalten der Wähler: Weil auch kleinere Parteien eine faire Chance haben, geben ihnen die Wähler eher ihre Stimme als wenn diese damit rechnen müssen, dass ihr bevorzugter Kandidat keine Chance auf eine Mehrheit hat und ihre Stimme deshalb im Papierkorb landen wird.

Ganz verschwunden ist dieser Effekt mit Einführung des Proporzsystems allerdings nicht. Aufgrund der geringen Grösse der Wahlkreise und des Hagenbach-Bischoff-Zuteilungsverfahrens (das grosse Parteien bevorzugt) müssen Wähler in vielen Kantonen auch heute noch damit rechnen, ihre Stimme unverwertet zu vergeben, wenn sie keine etablierte Partei wählen. Zur Erinnerung: In der Hälfte der Schweizer Kantone gibt es bei den Nationalratswahlen fünf Sitze oder weniger zu verteilen. Um in einem Wahlkreis mit fünf Sitzen ein Mandat auf sicher zu haben, muss eine Partei beachtliche 16.7 Prozent der Stimmen holen.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 

Dieser Beitrag ist der zweite Teil der dreiteiligen Serie «Wegweisende eidgenössische Wahlen». Bereits publiziert:

 


[1] Arend Lijphart (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries.

[2] Alfred Kölz (2004): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern, S. 689 ff.; Rudolf Natsch (1972): Die Einführung des Proporzwahlrechts für die Wahl des schweizerischen Nationalrats 1900–1919, in: Die Schweizerische Referendumsdemokratie im XX. Jahrhundert, Band I, Études et recherches d’histoire contemporaine, Fribourg, S. 119.

[3] Die Legislaturdauer betrug damals drei Jahre, somit wären die nächsten Wahlen eigentlich erst 1920 fällig gewesen. Aufgrund der angespannten Lage infolge des Landesstreiks 1919 beschloss die Bundesversammlung jedoch zum ersten und bislang einzigen Mal in der Geschichte des Bundesstaats, die Wahlen vorzuziehen. Um dies zu ermöglichen, fügte sie eine Übergangsbestimmung in die Verfassung ein, die anschliessend noch vom Volk angenommen werden musste. Siehe Kölz (2004): S. 725 ff.

[4] Die Stimmenanteile und Anzahl Sitze der Parteien stammen aus Erich Gruner et. al. (1978): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848–1919 sowie den Angaben des Bundesamts für Statistik entnommen. Da die Zuweisung der Kandidaten auf Parteien (bzw. Strömungen) teilweise unterschiedlich gehandhabt wurde, ist insbesondere beim Vergleich der Stimmenanteile Vorsicht geboten. Vgl. auch die leicht differierenden Zahlen bei Kölz (2004): S. 730.

[5] Genaugenommen gab es die Partei damals auf nationaler Ebene noch nicht. Sie wurde erst 1937 gegründet.

[6] Die Bauernpartei im Kanton Zürich war erst 1917 gegründet worden, die Bauern- und Bürgerpartei im Kanton Bern 1918. Andernorts existierten 1919 aber bereits ähnliche Organisationen, vgl. Kölz (2004): S. 730 f.

[7] 1919 hatte der Kanton Bern 32 Nationalratssitze.

Was uns «Borgen» und «House of Cards» über die politischen Systeme Dänemarks und der USA lehren

Politische TV-Serien sagen einges über die Demokratiemodelle der Länder aus, in denen sie gedreht wurden.

Birgitte Nyborg.

Birgitte Nyborg in «Borgen».

Am kommenden Donnerstag wählt Dänemark ein neues Parlament. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt hat den Wahltermin vor drei Wochen in einer «speziellen Ankündigung» bekanntgegeben.

Auch wenn die wenigsten unter uns die dänische Politik besonders nahe verfolgen, dürfte dieser Vorgang vielen TV-Zuschauern bekannt vorkommen – und zwar aus der Serie «Borgen», die auch im Schweizer Farbfernsehen ausgestrahlt wurde. In der Serie geht es um die Karriere der Politikerin Birgitte Nyborg und ihren Aufstieg zur Regierungschefin. Die Personen und Parteien sind zwar fiktiv, basieren aber auf realen Vorbildern. So diente die heutige EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager als Vorbild für die Figur Birgitte Nyborg, und ihre Sozialliberale Partei (Radikale Venstre) wird in «Borgen» zu den Moderaten (De Moderate).

«Borgen» gehört nicht nur zu den spannendsten Serien, die das Fernsehen zu bieten hat, sondern gibt auch einen interessanten Einblick in das politische System Dänemarks. Interessant vor allem, wenn man den Vergleich zieht zu einer Konkurrenz-Produktion aus den USA: «House of Cards». Die beiden Serien sind zwar ähnlich aufgebaut, unterscheiden sich aber gleichzeitig stark voneinander – so wie die politischen Systeme, von denen sie handeln.

 

Hier Ausgleich und Konsens, dort Erpressung und Bestechung

«House of Cards» handelt von Frank Underwood, einem machtsüchtigen US-amerikanischen Politiker. Ihm geht es einzig und allein darum, seinen Einfluss in Washington auszubauen. Dabei greift er gerne auf unzimperliche Methoden wie Erpressung, Bestechung und hinterhältige Lügen zurück – und geht auch schon mal über Leichen, um seine Ziele zu erreichen. Inhalte spielen dabei allerdings eine untergeordnete Rolle. Underwood bringt es auf den Punkt, als er den Zuschauern erklärt: «Leave ideology to the arm-chair generals, it does me no good.»

Frank Underwood.

Frank Underwood in «House of Cards».

Der Unterschied zur Hauptfigur bei «Borgen» könnte grösser nicht sein. Für Birgitte Nyborg geht es in der Politik in erster Linie darum, hehre Ziele wie Gleichheit und Solidarität zu verwirklichen und den eigenen Prinzipien treu zu bleiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie kompromisslos agiert. Im Gegenteil: Ihre Ziele versucht sie vor allem durch Ausgleich und Konsens zu erreichen.

Nun könnte man diese Unterschiede mit den Unterschieden zwischen Hollywood und skandinavischem Filmschaffen erklären. Diese Erklärung greift allerdings zu kurz: Sowohl «House of Cards» als auch «Borgen» sind stark geprägt von den jeweiligen politischen Systemen. – Die USA ist ein klassisches Mehrheitssystem: Gewählt wird im «First-past-the-post»-System, in welchem der Gewinner alles und alle anderen nichts bekommen. Dies führt zur Herausbildung eines Zwei-Parteien-Systems.

Zwei Antipoden – nicht nur im Fernsehen

Dänemark ist dagegen ein typisches Beispiel für eine parlamentarische Demokratie mit starken konsensorientierten Elementen. Das zeigt sich nicht nur im Verhältniswahlsystem, das eine faire Repräsentation aller politischen Kräfte ermöglicht. Es zeigt sich auch daran, dass innerhalb des Parlaments eine gewisse Konsenskultur herrscht. Im Gegensatz zur Schweiz hat Dänemark zwar keine Konkordanzregierung mit allen grossen Parteien, sondern wechselnde Koalitionsregierungen, die oft nur über eine knappe Mehrheit, regelmässig sogar nur eine Minderheit der Sitze im Parlament verfügen.[1] Jedoch arbeiten die Parteien – inklusive Oppositionsparteien – im parlamentarischen Prozess eng zusammen. Das zeigt sich zuweilen auch bei «Borgen», etwa wenn Nyborg für eine neue Umweltschutz-Vorlage die Unterstützung der Opposition sucht, obschon sie diese nicht bräuchte.[2]

Lijphart_DK_US

Dänemark und die USA in Arend Lijpharts Typologie der politischen Systeme.[3]

Schliesslich zeigt sich noch ein weiterer wesentlicher Unterschied. Die USA ist ein föderalistisch aufgebauter Staat, während in Dänemark der Zentralstaat viel mehr Gewicht hat. Tatsächlich spielen bei «House of Cards» die Bundesstaaten eine bedeutende Rolle, obschon die wichtigsten Figuren allesamt in Washington sind. So ist die Frage, wer Gouverneur in einem Staat werden soll, von grosser Wichtigkeit. Dagegen spielen bei «Borgen» die Regionen praktisch gar keine Rolle. Es ist nicht einmal klar, in welchen Wahlkreisen die Protagonisten gewählt werden.

In der bekannten Typologie von Arend Lijphart ist die USA daher in der Kategorie föderalistisches Konkurrenzsystem unten rechts zu verorten. Währenddessen ist Dänemark mit seinem konsensorientierten Einheitsstaat oben links angesiedelt (genauso wie die anderen nordischen Länder). Die USA und Dänemark bilden somit, was das politische System anbelangt, Antipoden. Ebenso wie «House of Cards» und «Borgen» zwei gegensätzliche Welten darstellen.

 


[1] Minderheitsregierungen sind auch deshalb häufig, weil die Regierung nicht die explizite Unterstützung des Parlaments braucht, sondern lediglich keine Mehrheit gegen sich haben darf. Aktuell bilden Sozialdemokraten, Sozialliberale und die Sozialistische Volkspartei die Regierung, haben aber keine Mehrheit im Parlament.

[2] Traditionell versuchen die Vertreter der vier grössten Parteien möglichst, einen Konsens untereinander zu finden. Dieses Prinzip ist als «Glidningspolitik» bekannt (Arend Lijphart [1977]: Democracy in Plural Societies). Inwiefern dieses Prinzip heute noch zur Anwendung kommt, ist allerdings nicht bekannt.

[3] Arend Lijphart (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries.

Doppelproporz Schwyz: «Kuckuckskinder» nicht im Sinne der Erfinder

Auch im Kanton Schwyz könnte alsbald der Doppelproporz eingeführt werden. Leider aber ohne die vorhersehbaren heiklen Sitzverschiebungen in den 17 Kleinstwahlkreisen zu beachten, wie es von seinen «Erfindern» empfohlen wird.

Zwar zählt im Gegenvorschlag «Kantonsproporz» tatsächlich jede Stimme in Schwyz, doch…

Am kommenden Wochenende stimmt der Kanton Schwyz über die Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der Schweizerischen Volkspartei ab. Wie vor kurzem in diesem Blog beleuchtet, würde dadurch ein einphasiges Mehrheitswahlverfahren (ohne absolutes Mehr) eingeführt, wie es insbesondere in Grossbritannien Tradition hat – und dort just dieser Tage aufgrund seiner augenscheinlicher Mängel unter Druck steht (siehe Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien).

Die Regierung und der Kantonsrat empfehlen daher den Schwyzerinnen und Schwyzern diese angelsächsische Importsendung zu refüsieren und stattdessen auf heimischere Qualitätsware zu setzen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich auch dieser direkte Gegenvorschlag «Kantonsproporz mit Sitzgarantie» als nicht gänzlich unproblematisch. Er würde zwar die Kantonsverfassung lediglich mit einem unspektakulären neuen Absatz ergänzen: «Der Kantonsrat wird nach dem Verhältniswahlverfahren (Proporz) gewählt.»[1]

Die einzelnen Wahlkreise dieses Proporzes entsprächen aber wie bisher den 30 politischen Gemeinden des Kantons. Während dem alten Schwzyer «Mischsystem Majorz/Proporz» 2013 die Gewährleistung durch die Bundesversammlung versagt wurde, konnte diese Verfassungsbestimmung ins Trockene gerettet werden.[2] Obschon hierdurch teilweise sehr kleine Wahlkreise entstehen, die eigentlich nur Anrecht auf einen kleinen Bruchteil eines Kantonsratssitzes hätten, so symptomatisch die 56-Stimmbürger-Gemeinde Riemenstalden, der kleinste Wahlkreis der Schweiz. Eigentlich ist das Dorf 17-mal zu klein für einen ganzen Kantonsratssitz.

Um dennoch in diesen althergebrachten, kleinräumigen Stukturen im Proporz wählen zu können, träte nach erfolgreicher Volksabstimmung zusätzlich automatisch ein neues Wahlgesetz in Kraft.[3] Wie kürzlich in den Nachbarkantonen Nidwalden und Zug gelangte auch am Fusse der Mythen ein Doppelproporz zur Anwendung, der die 100 Kantonsratsmandate zuerst fair auf gesamtkantonaler Ebene auf die Parteilisten verteilen würde. Damit auch kleinere bis mittelgrosse Parteien gleichwertige Chancen auf das eine oder andere Mandat haben.

«Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Bekanntlich birgt dieses Verfahren aber den Nachteil, dass der Proporz gesamtkantonal zwar perfekt abgebildet wird, aber innerhalb der einzelnen Wahlkreis nicht zwingend. Mit lokalen Sitzverschiebungen da und dort ist zu rechnen, weil letztlich die Korrekturen, die zur optimalen kantonsweiten Repräsentation führen, irgendwo getätigt werden müssen. Solche potentiellen «gegenläufigen Sitzverschiebungen»[4] – dass also Partei A mehr Mandate erhält als Partei B, obschon A weniger Stimmen erzielte als B – werden von den Gegnern des Doppelproporz-Gegenvorschlags denn auch genüsslich ausgebreitet, um diese Methode zu diskreditieren.

Im Duktus der Majorz-Freunde wird unter dem Stichwort «Kuckuckskinder» im aktuellen Abstimmungsbüchlein gewarnt: «Ein Teil der Stimmen aus einem Wahlkreis wirkt sich mitunter massiv in anderen Wahlkreisen aus. In nicht unwahrscheinlichen Fällen verfälschen alle Stimmen für eine Partei in einer anderen Gemeinde das Resultat. Somit können die grösseren Wahlkreise […] das Bild in Einerwahlkreisen zu 100 % verfälschen. Dann nämlich, wenn nicht diejenigen gewählt werden, die vom Gemeindebürger am meisten Stimmen erzielt haben, sondern dank Fremdstimmen Kandidaten mit (deutlich) weniger Zustimmung.» Xaver Schuler, Präsident der SVP Schwyz, sekundiert im Abstimmungs-Flyer: «Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Wie wahrscheinlich und wie störend sind derlei Sitzverschiebungen in der antizipierten Schwyzer Praxis tatsächlich? Um die Tendenzen abschätzen zu können, haben wir für Schwyz den Doppelproporz modelliert, jedoch nicht – wie dies bisher naheliegenderweise getan wurde[5] – anhand der Stimmenzahlen der letzten Kantonsrats-, sondern der Nationalratswahlen 2011. Denn bei den kantonalen Wahlen traten gerade in den (diese Analyse betreffend heiklen) sehr kleinen 17 Wahlkreisen mit bloss einem oder zwei Sitzen oftmals nur wenige Gegenkandidaten an: In 10 der 13 Einerwahlkreise gab es sogar überhaupt keine (!) Konkurrenz, weshalb hiermit das effektive Wählerverhalten nicht adäquat nachgebildet werden kann.

Anders bei den letzten Nationalratswahlen: Alle 17 Wahllisten, auch kleinere wie jene von Gewerkschaftsbund, BDP oder Junge SVP, konnten von allen Stimmbürgern eingeworfen werden – auch in Riemenstalden:[6]

NR 2011 SZ als KR-BiProp

 

Wie stark würde nun «geschoben», wie die SVP warnt? In der Tat wären etwa eine Hand voll gegenläufige Sitzverschiebungen innerhalb der 30 Wahlkreise aufgetreten. Dass also beispielsweise die EVP in Arth einen Sitz erhält, ist (speziell aus Sicht der dortigen BDP-Sektion) zwar unschön, doch irgendwo muss der EVP nun einmal ihr (einziges) Mandat zugewiesen werden, auf das sie gemäss Oberzuteilung Anrecht hat. Und in Arth liegt die EVP eben einem Kantonsratsmandat am nächsten – daher erhält sie es dort.

Doch diese kleineren Verschiebungen sind nicht tragisch, ja gerade dem Wahlsystem inhärent. Sie treten denn übrigens nicht nur im Doppelproporz auf, sondern ebenso in Wahlkreisverbänden (also in BL und LU), ja selbst im herkömmlichen Verfahren «Hagenbach-Bischoff» mit Listenverbindungen (AR, BE, GE, GL, LU, NE, OW, SG, TG, UR sowie Nationalrat). – Dort merkt und stört es interessanterweise aber kaum jemanden.[7]

Majorzbedingung für Kleinstwahlkreise vergessen

Mehr als unschön erscheinen aber jene drei Sitzverschiebungen, in denen der jeweils bestgewählten Partei im Wahlkreis ein Mandat verlustig geht, ja diese – zum Kuckuck! – gar mit völlig leeren Händen da steht. Hier wird das so genannte Mehrheitskriterium verletzt.[8] Dieses Paradoxon kann praktisch nur in Kleinstwahlkreisen auftreten – wie sie gerade in Schwyz stark verbreitet sind. Und, als hätte es die SVP geahnt: In allen drei Fällen (Illgau, Innerthal und Rothenthurm) müsste die SVP das lokale, einzige Mandat an eine schwächere Partei abgeben.

Muss nun, wer auf den Doppelproporz setzt, zwangsläufig mit letzteren, groben Anomalien leben? Im Gegenteil. Die Mitentwickler Friedrich Pukelsheim und Christian Schuhmacher hielten schon vor Jahren in einem Aufsatz fest: «[Es] kann in Wahlkreisen zu gegenläufigen Sitzzuteilungen kommen. Angesichts der hohen Abbildungsgenauigkeit des Doppelproporzes ist es zwar eher unwahrscheinlich, aber eben doch möglich, dass der einzige vorhandene Sitz an die zweitstärkste Liste geht oder eine andere, aber eben nicht an die stärkste. Der Aufschrei bei der betroffenen Partei und in der Bevölkerung wäre dann wohl laut gewesen.» Der Unmut der Wähler müsse aber nicht hingenommen werden, da sich das Problem beheben lasse. «In der Tat lässt sich der Majorz in den Doppelproporz einbetten. Es reicht, im Gesetz bei der Festlegung der Unterzuteilung eine ‹Majorzbedingung› […] hinzuzufügen. […] Die Majorzbedingung klingt sehr allgemein, bewirkt aber für die Einerwahlkreise das Gewünschte: Der eine Sitz geht an die stärkste Liste.»[9]

Dieses wahlrechtliche Essentialium wurde immerhin in der Vernehmlassung von einigen aufmerksamen Akteuren eingebracht[10], jedoch weder von Regierung (aus ausweichenden Gründen), noch Kommission oder Parlament aufgegriffen. Der Regierungsrat schrieb, «der vorgeschlagene Doppelproporz [entspricht] dem Wahlsystem des Kantons Nidwalden, das keine Majorzbedingung kennt»[11] – Nidwalden kennt aber auch nur einen einzigen Kleinwahlkreis; ausser Emmetten (zwei Sitze) erhalten alle Wahlkreise drei oder mehr Sitze. Auch hätte man statt über den Vierwaldstättersee einen Blick über den nächsten Hügel nach Nordwesten werfen dürfen: Zug wählt ebenso im Doppelproporz – aufgrund seiner beiden Zwei-Sitz-Wahlkreise inklusive Majorzbedingung.[12]

Wie weiter mit den «Kuckuckskindern»?

Was könnte Schwyz nun tun? Das Kind mit dem Bade ausschütten und tatsächlich zurück zum «einfachen und verständlichen Majorz»? Oder doch in den sauren Proporz-Apfel beissen?

Die eleganteste Möglichkeit wäre wohl, es dem Kanton Schaffhausen gleich zu tun. Auch dieser wählt im kommenden Jahr seinen Kantonsrat im Doppelproporz. Und auch er hat einen kleinen Einerwahlkreis – und unterliess bisher die Implementierung der Majorzbedingung. Doch heuer will die Regierung diesen Makel noch rechtzeitig beheben.[13]

Eine zweite Variante bestünde darin, das Grundproblem zu beheben, welches den gezeigten verletzten Mehrheitsbedingungen zugrunde liegt: die 17 Miniwahlkreise, insbesondere die viel zu kleinen Einerwahlkreise. Hier setzt genau die Volksinitiative «Für gerechte Proporzwahlen» der kleinen Parteien und der SP an, die vom Parlament bereits durchberaten und somit abstimmungsreif ist, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt vors Volk gelangen soll (sofern sie nicht zurückgezogen wird). Zwar schreibt dieses Volksbegehren kein bestimmtes Proporzwahlsystem vor, geschweige denn eine konkrete neue Wahlkreiseinteilung. Jedoch würde sie die geltende Sitzgarantie für alle 30 Schwyzer Gemeinden aus der Verfassung streichen, was als Signal interpretiert werden müsste, diese aufzulockern.

Drittens schliesslich könnten die ersten Wahlen im neuen doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren einfach mal abgehalten werden, im Wissen, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit noch die eine oder andere Kinderkrankheit auftreten wird. Diese könnten während der nächsten Legislatur in Ruhe analysiert und durch eine nachhaltigere Lösung behoben werden.

Letztendlich entbehrt die «ewige» Schwyzer Wahlrechtsreform nicht einer gewissen Ironie: Die Stimmbürger können nun zwischen einem etwas unausgereiften Proporz und einem radikal-anachronistischen Majorz auswählen – optimal wäre ein kluger Mix zwischen beiden gewesen.

 


[1] § 48 Abs. 3 KV/SZ. Dazu stiesse noch ein zweiter Satz: «Das Gesetz kann Mindestquoren vorsehen.» Im ausführenden revidierten Kantonsratswahlgesetz (§ 16 Abs. 3 KRWG; siehe Fn. [3]) würde ein Quorum von 1 Prozent vorgesehen, das genau dem Idealanspruch eines Mandats entspricht.

[2] § 48 Abs. 2 KV/SZ wurde gewährleistet, womit die Mindestsitzgarantie für alle 30 Gemeinden erhalten bleiben konnte (BBl 2013 2621). Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe BGE 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011 vom 19. März 2012 sowie Yvo Hangartner (2012): Entscheidbesprechung 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011, AJP 6/2012, 846 ff.; Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zur Verfassungsreform im Allgemeinen: Paul Richli (2012): Zur neuen Schwyzer Kantonsverfassung – Mehr als eine Kopie oder ein Verschnitt, ZBl 113/2012, 391 ff.; Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99. Vgl. zur Gewährleistungdebatte: Pierre Tschannen (2014): Die Schwyzer Kantonsverfassung, das Bundesgericht und die Bundesversammlung – Ein Lehrstück, in: Berner Gedanken zum Recht – Festgabe der Rechtswisschenschaftlichen Fakultäten der Universität Bern für den Schweizerischen Juristentag 2014, 2014, 405 ff.

[3] Kantonsratswahlgesetz vom 17. Dezember 2014 (KRWG) (publ. im Amtsblatt Nr. 51 vom 19. Dezember 2014, S. 2822 ff.)

[4] Vgl. Friedrich Pukelsheim/Christian Schuhmacher (2004): Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, AJP 5/2004, 519; dies. (2011): Doppelproporz bei Parlamentswahlen – ein Rück- und Ausblick, AJP 12/2011, 1589.

[5] Zwar hat Regierungsrat Rüegsegger in der Kantonsratsdebatte verlauten lassen: «Wichtig ist auch noch, dass bis jetzt bewusst darauf verzichtet worden ist, irgendwelche Modellrechnungen anzustellen. Wir haben weder innerhalb von der Regierung, der Verwaltung aber auch nicht mit der Kommission irgendwelche hypothetische Modellrechnungen gemacht, mit welchen wir einschätzen könnten, bei welchem System wer wieviel gewinnt oder verliert. […] Ich bin Ihnen letztlich dankbar, dass dies von Ihnen so akzeptiert worden ist und wir nicht mittels parlamentarischem Vorstoss dazu genötigt worden sind, irgendwelche hypothetischen Modellrechnungen abzugeben.» (Verhandlungsprotokoll, ao. Sitzung vom 19.11.2014, S. 994) Jedoch haben diverse Akteure sehr wohl Berechnungen angestellt, aber so weit ersichtlich nur mit den (unzulänglichen) Daten der Kantonsratswahlen: Vgl. Schwyzer Volksblatt der SVP, Februar 2015, S. 4 («[…] wir haben mit den Wahlstimmen von 2012 die Wahl nach den Regeln des Doppelten Pukelsheim simuliert.»); ebenso eine Maturaarbeit des späteren Beschwerdeführers vor Bundesgericht (1C_445/2011) sowie Parteisekretärs der FDP Schwyz für die Kantonsratswahlen 2008: Flavio Kälin (2008): Kanton Schwyz – Wahlsysteme für Kantonsratswahlen, Kantonsschule Kollegium Schwyz, Anhang 1.

[6] Bei der Zuhilfenahme der Daten der Nationalratswahlen stellt sich aber die Frage, wie mit den damaligen Kleinparteien und Nebenlisten umzugehen sei. Würden auch die Jungparteien JSVP, JCVP und JUSO mit eigener Liste(ngruppe) antreten? Selbst ob die im Kantonsrat bisher gar nicht vertretenen BDP und EVP sowie die Grünen (1 Mandat) je eigene Listen aufstellen würden, ist unklar. Wir haben daher vier Varianten untersucht, ausgehend von 17 parallelen Listen gemäss Nationalratswahl bis hin zu relativ kompakten, konsolidierten Listengruppen gemäss den damaligen Listenverbindungen:

  • Variante A: alle 17 Listen gemäss NR 2011, je separat
  • Variante B: Listen mit Wähleranteil <1 % zu Stammliste addiert (aufgrund des vorgesehenen Mindestquorums von 1 %)
  • Variante C: alle Listen zu einparteiigen Listengruppen addiert
  • Variante D: Listengruppen gemäss Listenverbindungen NR 2011; ausser BDP separat

Letztendlich wird Variante C, die oben präsentierte Variante, wohl der Realität am nächsten kommen. Die anderen Varianten A, B und D wie auch Variante C inklusive der hier vorgestellten Majorzbedingung können hier betrachtet werden. Letztlich finden die verletzten Mehrheitskriterien in ähnlicher Form und Anzahl auch bei den anderen Varianten statt.

[7] Die mathematischen Gegebenheiten anerkennend, hat denn auch das Bundesgericht gegenläufige Sitzverschiebungen (hier noch Wahlkreisverbände betreffend) als zulässig taxiert: BGE vom 09.12.1986, ZBl 1987, 367 ff.; BGE 1P. 671/1992 vom 08.12.1993, ZBl 10/1994, 483 ff.

[8] Das Mehrheitskriterium (auch: Mehrheitsbedingung, Majority criterion) verlangt, dass aus einer (bestimmten) Mehrheit an Stimmen eine Mehrheit an Sitzen resultiert. Vgl. auch (die absolute Mehrheit betreffend) Pukelsheim/Schuhmacher (2004), 520.

[9] Pukelsheim/Schuhmacher (2011), 1597 (Hervorhebungen durch den Verfasser).

[10] Den majorzbedingten Doppelproporz regten die Vernehmlassungsantworten an von: FDP des Kantons Schwyz, Gemeinde Sattel sowie diejenige des Verfassers dieses Beitrags.

[11] Beschluss Nr. 659/2014 des Regierungsrat des Kantons Schwyz, Initiative «Für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» mit Gegenvorschlag, 17. Juni 2014, S. 13. Die dort skizzierte, theoretisch mögliche Diskrepanz zwischen (zu geringer) Oberzuteilung und (zu zahlreicher) via Majorzbedingung zugewiesener Mandate wäre durchaus zu beheben, bspw. durch eine nur subsidiäre Majorzbedingung, siehe Claudio Kuster (2014): Vernehmlassungsantwort: Kantonsratswahlen: Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Kantons Schwyz, S. 8 ff.

[12] Aus dem Zuger Wahlgesetz sollte man die Majorzbedingung indes besser nicht abschreiben. Denn wird dort nicht nur das Mindestquorum falsch berechnet, sondern auch die Majorzbedingung fehlerhaft legiferiert, vgl. Claudio Kuster (2014): Kritik: Doppelproporz im Wahlgesetz Zug, S. 1

[13] Kanton Schaffhausen: Schwerpunkte der Regierungstätigkeit 2015, vom Regierungsrat beschlossen am 06.01.2015, S. 16.

Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien

In seinem Mutterland Grossbritannien kommt das Mehrheitswahlsystem unter Druck. In Schwyz dagegen könnte es bald ein Revival erleben.

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Lange war das Majorzsystem in Grossbritannien so unbestritten wie die Queen oder die allgemeine Überzeugung, dass Blutwurst zu einem ordentlichen Frühstück gehöre. Das System der (relativen) Mehrheitswahl (im englischen Sprachraum «First-past-the-post» bzw. FPTP genannt) war derart typisch britisch, dass es weitherum als «Westminster System» Bekanntheit erlangte.[1]

Vor den Unterhauswahlen am 7. Mai ist der Majorz im Königreich allerdings so stark in Frage gestellt wie nie zuvor. Denn es wird immer offensichtlicher, dass das britische Wahlsystem immer weniger zum heutigen britischen Parteiensystem passt.

Die Mitglieder des House of Commons werden traditionell in Einerwahlkreisen gewählt, und zwar nach relativem Mehr. Das heisst, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, auch wenn er keine Mehrheit erlangt hat. Dieses Verfahren gibt den Wählern einen starken Anreiz, ihre Stimme einer grossen Partei zu geben. Denn um realistische Chancen auf den Sieg zu haben, muss eine Partei in einem Wahlkreis mindestens 25 oder 30 Prozent der Wähler hinter sich haben.[2]

Als Folge davon wird die britische Politik traditionell von zwei Parteien dominiert[3] – zunächst von Konservativen und Liberalen, seit den 1920er Jahren von Konservativen und Labour. In der Blütezeit des Zwei-Parteien-Systems teilten Tories und Labour 97 Prozent der Stimmen unter sich auf.

Vom Zwei- zum Sechs-Parteien-System

Von einem solchen Anteil können sie heute nur träumen: Gemäss den Umfragen dürften sie am 7. Mai zusammen noch auf etwas über 60 Prozent kommen. Denn entgegen der Logik der relativen Mehrheitswahl wird die politische Landschaft in Grossbritannien immer vielfältiger. Als dritte Kraft neben Labour und Konservativen haben sich in jüngerer Vergangenheit die Liberaldemokraten etabliert. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums erfährt die EU-skeptische UKIP regen Zulauf. Und ganz links haben die Grünen nach Jahren der Bedeutungslosigkeit in den Umfragen einen kometenhaften Aufstieg hingelegt.

Parallel dazu haben sich mit der Scottish National Party (SNP) in Schottland und Plaid Cymru in Wales regionale Parteien etabliert.[4] Die Scottish National Party (SNP) hat Labour im schottischen Parlament längst als stärkste Kraft abgelöst. Im Unterhaus ist sie bisher mit 6 Sitzen (von 59 in Schottland) schwach vertreten, dürfte allerdings deutlich zulegen.

Starke Verzerrung

Das britische Wahlsystem vermag diese Vielfalt immer weniger abzubilden; Vieles deutet darauf hin, dass die Verzerrung des Wählerwillens tendenziell zunehmen wird. Die Konservativen und Labour werden zwar die grössten Parteien bleiben, dürften aber deutlich mehr Sitze erringen, als es ihren Wähleranteilen entsprechen würde. Umgekehrt dürften kleinere Parteien schlecht bedient werden oder ganz vom Parlament ausgeschlossen bleiben.

Doch das ist nicht die einzige Ungerechtigkeit: Denn das Wahlsystem benachteiligt nicht einfach kleine Parteien, sondern vor allem kleine Parteien, deren Wählerschaft besonders breit gestreut ist. So könnte die UKIP weniger Sitze erringen als die SNP, obschon sie mehr Wähler hat (gemäss Umfragen dürfte die UKIP auf 10 bis 20 Prozent kommen). Denn die SNP tritt zwar nur in Schottland an, ist dort dafür eine Macht. Die UKIP dagegen hat zwar im ganzen Land Anhänger, aber eben nirgends wirklich viele.

Bei den Wahlen am 7. Mai dürfte die Sitzverteilung daher so verzerrt sein wie selten zuvor. Das weckt inzwischen selbst bei Tories – eigentlich bedingungslose Verfechter von FPTP – Zweifel am Wahlsystem. Der konservative «Telegraph» berichtete kürzlich besorgt darüber, dass Labour bei den Unterhauswahlen weniger Stimmen als die Konservativen holen und am Ende trotzdem als Siegerin dastehen könnte.

Ob dieses Szenario eintreffen wird, ist offen. Wahrscheinlich ist hingegen, dass Grossbritannien nach dem 7. Mai weiter von einer Koalition regiert werden wird – keine gute Nachricht für ein Wahlsystem, das dafür gelobt wird, dass es stabile Regierungen hervorbringt.

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Gesellschaftlicher Wandel

Während die relative Mehrheitswahl in ihrem Mutterland zunehmend in Frage gestellt wird, könnte sie an einem anderen Ort bald ein Revival erleben: Im Kanton Schwyz kommt am 8. März eine Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der SVP zur Abstimmung, welche die relative Mehrheitswahl in der Verfassung verankern will. Dies, nachdem das bisherige Wahlsystem vom Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt worden war.[5]

Ob das vorgeschlagene Majorzsystem mit dem in der Bundesverfassung verankerten Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit vereinbar ist, ist fraglich, insbesondere nachdem das Bundesgericht in einem kürzlichen Urteil zu Appenzell Ausserrhoden ziemlich strikte Bedinungen an den Majorz gestellt hat.[6]

Davon abgesehen stellt sich auch die Frage, ob der Majorz für den Kanton Schwyz das geeignete System darstellt. Das Parteiensystem in Schwyz ist noch diversifizierter als jenes in Grossbritannien: Im Kantonsrat sind trotz der grösstenteils sehr kleinen Wahlkreisen sechs Parteien vertreten.[7]

Zudem haben Grossbritannien und die Schweiz zumindest eines gemeinsam: den Trend der sinkenden Parteibindung.[8] Anders als früher lassen sich Wähler heute nicht mehr so leicht in bestimmte Kategorien zwängen. Die homogene Arbeiterschaft, die früher geschlossen Labour beziehungsweise die Sozialdemokraten unterstützte, gibt es nicht mehr.

Dass ein mittelständischer Büroangestellter in Südengland seine Stimme den Konservativen gibt, ist heute so wenig selbstverständlich, wie dass ein Kleinunternehmer in Zürich die FDP wählt oder ein Bergbauer in Uri die CVP. Die Einstellungen der Bürger sind heute vielfältiger, sie lassen sich nicht mehr in einem eindimensionalen Zwei-Parteien-System abbilden. Doch je mehr Parteien es gibt, desto stärker wird im Majorz der Wählerwillen verzerrt.

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels stellt sich die Frage, wie angemessen das (relative) Mehrheitswahlsystem in der heutigen Zeit noch ist. Man darf gespannt sein, welche Antworten die Schwyzer und die Briten auf diese Frage finden.

 

Einen sehr lesenswerten Artikel zum Thema hat jüngst der «Economist» publiziert.

 


[1] Nach dem Gebäude, in dem das britische Parlament untergebracht ist.

[2] Der tiefste Wähleranteil, der je zum Sieg reichte, waren 26.0 Prozent. Das sind beinahe schon philippinische Verhältnisse (siehe Lotterie um das Präsidentenamt).

[3] Die Politikwissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von «Duvergers Gesetz».

[4] Auch in Nordirland gibt es regionale Parteien, dort waren die Konservativen und Labour aber ohnehin nie vertreten.

[5] Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zum Ganzen: Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99.

[6] BGE 1C_59/2012 und 1C_61/2012 vom 26. September 2014, E. 12.5.3. Vgl. kritisch gegenüber dem Majorz: Daniel Bochsler (2015): Die letzte Bastion der Unparteilichkeit fällt, Napoleon’s Nightmare 09.02.2015 (sowie in «St. Galler Tagblatt», 14.02.2015 und «Urner Wochenblatt», 20.02.2015); ebenso Andrea Töndury (2012): Die «Proporzinitiative 2014» im Kanton Graubünden, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden (ZGRG), Nr.2/2012, S. 64 ff. und ders. (2013): Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen, in: Andrea Good/Bettina Platipodis (Hrsg.), Direkte Demokratie – Herausforderungen zwischen Politik und Recht – Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag, Bern 2013, S. 51 ff. Den Majorz befürwortend: Georg Müller (2015): Sind Wahlen von Parlamenten nach dem Majorzsystem verfassungswidrig?, SJZ Nr. 4/2015, 103 ff. Zur Zulässigkeit der relativen Mehrheitswahl, so weit ersichtlich, bisher nur der bejahende Entscheid vom 15. März 2013 des Verfassungsgerichts Nidwalden (VG 12 1), Tschopp/Amstutz gg. Landrat NW i.S. Zulässigkeit des Gegenvorschlages des Referendumskomitees «Majorz: Kopf- statt Parteiwahlen» zur Teilrevision des Gesetzes über die Verhältniswahl des Landrates. Vgl. zum Ganzen auch: Erich Aschwanden (2014): Majorz-Initiative mit Nebenwirkungen, NZZ vom 15. November 2014.

[7] Bei den letzten Nationalratswahlen 2011 traten im Kanton Schwyz (für die bloss vier Sitze) sogar 17 Listen an.

[8] Vgl. hierzu Entzauberte Konkordanz und Die Bürger nicht erst am Schluss fragen.

Wie das Tessin zum Schweizer Proporzpionier wurde

Logo_Serie_TrouvaillenImmer wieder war das Tessin im 19. Jahrhundert Schauplatz hitziger Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen. Den Frieden brachten schliesslich zwei Neuerungen, die den Kanton zum Vorbild für die ganze Schweiz machen sollten.

In keinem anderen Kanton war im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen derart heftig wie im Tessin. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war der Putsch von 1890, der den Kanton an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Am Ursprung der blutigen Ereignisse stand das Wahlrecht – dieses sollte sich zugleich als der Schlüssel zur Befriedung des Konflikts herausstellen.

1830 nahm das Tessin ein erstes Mal eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein, als es als erster Kanton eine liberale Regenerationsverfassung in Kraft setzte. Diese basierte auf den Ideen der französischen Revolution und proklamierte Freiheit, Gleichheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Gegen diese Grundsätze formierte sich bald Widerstand kirchentreuer Konservativer.

Die beiden politischen Blöcke lieferten sich in der Folge einen erbitterten Streit um die Macht, bei dem beide Seiten wenig zimperlich vorgingen. So enteignete die radikale Regierung 1848 – als infolge der Gründung des Bundesstaats die Zolleinnahmen wegfielen – kurzerhand die Klöster, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. 1855 ging sie noch weiter, als sie den verhassten Klerus vom Wahlrecht ausschloss, ein klarer Widerspruch zur Bundesverfassung.

Das geltende Wahlsystem verstärkte die Polarisierung. Gewählt wurde das Parlament – wie damals üblich – im Majorzsystem, und zwar in 38 Wahlkreisen mit je 3 Sitzen. Das Mehrheitssystem hatte den bekannten Effekt, dass kleine Unterschiede an erhaltenen Stimmen die Kräfteverhältnisse im Kanton gänzlich umkehren konnten. Umso erbitterter kämpften die beiden Parteien um die Macht, weil der Mehrheit im Parlament alles, der Minderheit nichts zukam. Ein italienischer Besucher beschrieb die politische Kultur so: «Bei jedem Machtwechsel im Kanton Tessin unterdrückt die Siegerpartei moralisch alle Anhänger der Besiegten und besetzt alle Ämter, auch die geringsten, mit den eigenen Parteigängern.»[1]

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1875 nahmen die Spannungen weiter zu. Die unterlegenen Radikalen reichten beim Bundesrat Rekurs gegen die Grossratswahlen ein mit der Begründung, durch das Wahlsystem benachteiligt zu werden. Tatsächlich verletzte dieses den Grundsatz der politischen Gleichheit in grober Weise, weil die einzelnen Wahlkreise zwar unterschiedlich grosse Bevölkerungen zählten, trotzdem aber alle Anrecht auf genau drei Sitze hatten.[2] Bevorteilt wurden vor allem kleine Kreise in den Tälern, wo die Konservativen besonders stark waren.[3]

Auch der Bundesrat sah die Verfassung durch das Tessiner Wahlsystem verletzt, sah sich aber nicht dafür zuständig und überwies die Angelegenheit an die Bundesversammlung, das den fraglichen Artikel in der Tessiner Verfassung schliesslich ausser Kraft setzte.

Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen Wahlsystems verschärfte den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter. 1876 kam es in Stabio zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit mehreren Todesopfern. Daraufhin intervenierte der Bundesrat und sendete zum ersten Mal einen Kommissär ins Tessin. Unter seiner Vermittlung einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die Wahlen von 1879 um zwei Jahre vorzuverschieben und unter einem neuen Wahlsystem durchzuführen, das die Sitze nach Massgabe der Bevölkerung auf die Wahlkreise verteilte.

Vom Regen in die Traufe

Die Konservativen gewannen die Wahlen erneut und machten sich sogleich daran, ihre Macht zu sichern. Mit der Mehrheit im Grossen Rat konnten sie die Wahlkreise nach Belieben einteilen und griffen dabei zur mehrfach bewährten Methode des «Gerrymandering». So teilte sie dem Wahlkreis Gambarogno, der bis dahin zuverlässig liberal gewählt hatte, die beiden konservativen Gemeinden Gordola und Cugnasco zu, woraus sich ein Wahlkreis mit vier Sitzen ergab, die fortan alle an die Konservativen fielen. Angesichts solcher Manipulationen[4] bezeichnete der Jurist Albert Schneider in einem Bericht die Wahlgeografie im Kanton Tessin als «artifiziell und monstruös».[5] Hinzu kam, dass für die Berechnung der Sitzzahlen auch Bürger gezählt wurden, die längst nicht mehr in der Gemeinde wohnten. Das gab den mehrheitlich konservativen Gemeinden in den Tälern, deren Einwohner vielfach nach Italien emigriert waren, zusätzliches Gewicht.

Für die Liberalen war die Änderung des «ungerechten» Wahlsystems somit ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Exemplarisch zeigte sich dies bei den Wahlen 1889, bei denen die Konservativen mit 51 Prozent der Stimmen 69 Prozent der Sitze im Grossen Rat holten.[6] Die radikale Zeitung «Il Dovere» (die heutige «La Regione») kommentierte sarkastisch: «Es lebe die Gleichberechtigung!»

Das Wahlresultat bestätigte die Liberalen in ihrer Befürchtung, trotz ausgeglichener Kräfteverhältnisse auf lange Frist von der Macht ausgeschlossen zu bleiben. Ihre Empörung entlud sich zunächst in der rekordverdächtigen Zahl von 726 Rekursen, die gegen das Ergebnis beim Bundesrat eingingen. Bald schon griffen sie allerdings zu drastischeren Mitteln: Am 11. September 1890 stürmte eine Gruppe radikaler Aufständischer das Regierungsgebäude in Bellinzona und verhaftete die anwesenden Regierungsmitglieder. Im Getümmel wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss getötet. Die Revolutionäre riefen eine provisorische Regierung aus und setzten das Parlament ab.

Oberst Arnold Künzli

Oberst Arnold Künzli.

Der Bundesrat reagierte sofort und beschloss eine Bundesintervention. Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone – die gerade einen WK in der Nähe leisteten – unter der Führung von Nationalrat und Oberst Arnold Künzli ins Tessin. Er hatte den Auftrag, die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Am 12. September trafen Künzlis Truppen mit einem Sonderzug in Bellinzona ein. Er ermahnte das Volk zunächst in einer Proklamation zur Ruhe und machte sich dann daran, die verhafteten Staatsräte wieder auf freien Fuss zu setzen.

Dann allerdings kam es zu einem Missverständnis, das beinahe folgenschwer gewesen wäre. Der Bundesrat hatte Künzli nämlich in einer ergänzenden Weisung am 13. September beauftragt, ihm «zu berichten, in welchem Momente die gesprengte Regierung im Stande und gewillt sei, ihre Funktionen wieder auszuüben». Künzli leitete daraus die Aufforderung ab, die konservative Regierung wieder einzusetzen. Das, so seine Befürchtung, würde jedoch neue Unruhen und Blutvergiessen zur Folge haben. Künzli telegrafierte nach Bern, der Auftrag erscheine ihm «so folgenschwer, ernst und bedenklich für Zukunft des Kantons und der Eidgenossenschaft, dass ich meinen Namen mit dieser Massregel nicht verknüpfen kann». Der Oberst verweigerte den Befehl und ersuchte den Bundesrat um Entlassung als Kommissär.

Die Regierung antwortete umgehend und erklärte: «Wir haben Sie nicht beauftragt, die alte Regierung wieder einzusetzen, sondern über die Frage zu berichten, in welchem Moment dieselbe im Stande und Willens sei, die Staatsgeschäfte wieder an die Hand zu nehmen.» Der Bundesrat lehnte das Demissionsgesuch ab, nicht ohne aber Künzli zu ermuntern: «Wir verkennen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe nicht, appellieren aber an Ihren Patriotismus.»

In der Folge setzte Künzli die provisorische Regierung ab und setzte die von den Liberalen verlangte Abstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Nachdem das Volk dieser am 5. Oktober zugestimmt hatte, ging es nun darum, ein politisches System zu finden, das dem Kanton endlich friedliche und stabile Verhältnisse bringen würde. Oberst Künzli sollte recht behalten mit seinen Worten, die er bereits kurz nach seiner Ankunft im Tessin geäussert hatte: «Frieden und bessere Zustände können nur wiederkehren, wenn jede Partei die Vertretung in den administrativen und richterlichen Behörden erhält, die ihr nach ihrer Stärke gebührt, und wenn die vernünftigen Theile beider Parteien auf dieser Grundlage zu einer Verständigung gelangen.»

«Zu kompliziert»

Auf Anregung von Künzli organisierte der Bundesrat eine Reihe von Versöhnungskonferenzen zwischen den zerstrittenen Fraktionen und versuchte einen Kompromiss zwischen ihnen zu vermitteln. Zunächst verlangte die bundesrätliche Delegation die Wahl einer «gemischten Regierung», also eines Staatsrats, der aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt ist.

Was das Wahlsystem angeht, verzichtete der Bundesrat zunächst auf eine konkrete Empfehlung und sprach sich stattdessen grundsätzlich für ein System aus, das «die gerechte Vertretung der Parteien» gewährleisten würde. Die Einführung des Proporzsystems wurde im Grossen Rat diskutiert, allerdings schreckte man davor zurück, da die Anwendung dieses Systems «zu kompliziert» sei und «unser Volk mit der Idee derselben noch zu wenig vertraut» sei, wie es der gemässigt konservative Abgeordnete Agostino Soldati ausdrückte.[7] Die Konservativen schlugen stattdessen das System der «limitierten Stimmabgabe» vor.[8]

Allerdings kam eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene statistische Untersuchung zum Schluss, dass dieses System die konservative Dominanz nur leicht vermindern würde. Weil die Liberalen zudem die limitierte Stimmabgabe ablehnten und damit eine neue Staatskrise drohte, ging der Bundesrat schliesslich in die Offensive und sprach sich offen für das «System der Proportionalvertretung» aus.

Unter dem Druck der Landesregierung stimmten die verfeindeten Parteien den bundesrätlichen Vorschlägen schliesslich zu. Am 5. Dezember 1890 verabschiedete der Grosse Rat ein Gesetz zur Wahl des Verfassungsrats nach dem Proporzsystem.[9] Gleichzeitig wählte er zwei Liberale in den fünfköpfigen Staatsrat (der damals noch nicht vom Volk gewählt wurde). Zum ersten Mal wurde das Tessin im Konkordanzsystem regiert.

Die erstmalige Anwendung des Proporzsystems in der Schweiz verlief allerdings nicht wie gewünscht: Denn die Konservativen versuchten das neue System zu ihrem Vorteil auszunutzen, indem sie in einigen Wahlkreisen mehrere Listen aufstellten in der Hoffnung, damit mehr Sitze zu gewinnen. Die Liberalen waren darüber derart erbost, dass sie die Wahl am 11. Januar kurzerhand boykottierten. Als Folge davon bestand der Verfassungsrat vollständig aus Konservativen. Immerhin führte dieser Verfassungsrat das Proporzsystem auch für die Wahlen des Grossen Rats ein und sorgte damit für eine fairere Verteilung der Parlamentssitze.

Die Debatte über das Wahlsystem war damit im Tessin zwar noch lange nicht abgeschlossen.[10] Fortan wurde diese Debatte aber im Rahmen eines geordneten demokratischen Prozesses ausgetragen. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten der Vergangenheit an.

Vorbild für den Bund

Die Ironie der Geschichte ist, dass der freisinnige Bundesrat den Kanton Tessin zu zwei Neuerungen zwang, denen er sich auf Bundesebene vehement widersetzte: die Proporzwahl und die Konkordanz. Während er die Tessiner Konservativen dazu drängte, den Liberalen eine angemessene Vertretung in der Regierung zuzugestehen, verweigerte er genau das den Konservativen im Bundesstaat. Immerhin wurde 1891 mit Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Auch von einer «gerechten Vertretung der Parteien» im Parlament, wie er sie im Tessin forderte, wollte der Bundesrat im Bezug auf den Nationalrat nichts wissen und sträubte sich bis 1918 dagegen, als das Volk die Proporzwahl der grossen Kammer annahm.

Das doppelte Spiel der freisinnigen Mehrheit in Bundesbern sorgte schon damals für kritische Töne. So klagte der Zürcher Konservative Georg von Wyss 1890 in einem Brief: «Welch trauriges Spektakel, dass die [eidgenössischen] Räte (…) die Tessiner Revolutionäre schützen und für sie Konzessionen fordern, die sie gleichzeitig all jenen verweigern, welche nicht gleich denken wie sie.»[11]

Schliesslich ist noch eine weitere Neuerung im Kanton Tessin aufschlussreich: 1892 führte der Südkanton nicht nur die Volkswahl der Regierung (nach dem Proporzverfahren) ein, sondern auch die Möglichkeit, dieselbe mittels Volksabstimmung abzuberufen. Diese Reform wurde explizit damit begründet, dass dadurch gewaltsame Umstürze verhindert werden könnten.

Dieser Beitrag ist der sechste Teil der (unterdessen endlosen) Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

 


[1] Dossi, Carlo (1964): Note azzurre, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[2] Gemäss dem Bundesrat hatte etwa eine Stimme im Kreis Levizzara fast sechsmal mehr Gewicht als eine in Lugano. Quelle: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[3] Die Liberalen, die sich nun darüber beklagten, hatten es aber offenbar nicht für nötig befunden, während ihrer über 30 Jahre an der Macht das Wahlsystem anzupassen.

[4] Für weitere Beispiele siehe Ghiringhelli, Andrea (1995): Il cittadino e il voto.

[5] Schneider, Albert (1889): Rapporto sui ricorsi concernenti le elezioni al Gran Consiglio presentato all’alto Consiglio Federale, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[6] Die Konservativen erhielten 12’653 Stimmen und 77 Sitze, die Liberalen 12’018 Stimmen und 35 Sitze. Quelle: Ghiringhelli (1995).

[7] Man beachte die Parallelen zur Diskussion, die später auf Bundesebene geführt wurde.

[8] Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen (wie sie damals in der Schweiz üblich war) mit der Besonderheit, dass die Wähler weniger Stimmen zur Verfügung haben, als Sitze zu vergeben sind. Das gibt Minderheitsparteien bessere Chancen auf eine Vertretung.

[9] Für die Aufteilung der Sitze auf die Parteien kam das Bruchzahlverfahren (Hare-Niemeyer-Verfahren) zur Anwendung und nicht das Hagenbach-Bischoff-Verfahren, das sich später in den meisten Kantonen und auf Bundesebene durchsetzen sollte. Das Tessin ist heute neben Waadt der einzige Kanton, der sein Parlament nach dem Bruchzahl-Verfahren wählt.

[10] Insbesondere wurde die Zahl der Wahlkreise von 17 kontinuierlich verkleinert, bis 1920 ein Einheitswahlkreis für den ganzen Kanton eingeführt wurde.

[11] Brief an Ernest Naville, zitiert in: Wisler, Dominique (2008): La démocratie genevoise.

Das lange Warten der jurassischen Katholiken

Logo_Serie_TrouvaillenWährend fast vierzig Jahren verwehrten die Freisinnigen im 19. Jahrhundert den jurassischen Katholiken eine Vertretung im Nationalrat. Der Konflikt darüber löste auf Bundesebene beinahe eine Staatskrise aus.

Vor Kurzem ging es an dieser Stelle darum, wie die Freisinnigen im 19. Jahrhundert die Wahlkreise für die Nationalratswahlen im Kanton Luzern nach Gesteinsformen einteilten, um sich möglichst viele Sitze zu sichern. Das ist allerdings nicht das einzige Beispiel, wo sich die Liberalen des so genannten «Gerrymandering» bedienten. Auch in anderen Kantonen wie Aargau, Bern, Freiburg oder St. Gallen warfen die Konservativen den Freisinnigen vor, die Wahlkreise zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Besonders interessant ist das Beispiel des Kantons Bern, weil hier zum parteipolitischen Konflikt auch noch ein (sprach-)regionaler Konflikt hinzukam.[1]

Bern war zur Gründungszeit des Bundesstaats nicht nur als Sitz der Bundesbehörden von Bedeutung. Es war damals auch der grösste Kanton und stellte mit Abstand die meisten Nationalräte, nämlich 20 von insgesamt 111. Anders als Luzern war der Kanton mehrheitlich protestantisch, somit hatten die Liberalen hier keine Konkurrenz durch die Katholisch-Konservativen zu befürchten (mit einer Ausnahme, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen werden). Es gab aber eine starke protestantisch-konservative Fraktion, die sich bei den Grossratswahlen 1850 sogar die Regierungsmacht sicherte.

Der französischsprachige Jura war zweigeteilt: Der protestantische Süden wählte mehrheitlich liberal, der katholische Norden mehrheitlich konservativ. Gemäss der Volkszählung 1850 hatte der katholische Teil der Region rund 42’000 Einwohner und demnach Anrecht auf zwei Vertreter im Nationalrat.[2] Die Liberalen hatten allerdings nicht die Absicht, den Katholisch-Konservativen diese zwei Sitze zu überlassen. Als das eidgenössische Parlament 1850 zum ersten Mal die Wahlkreise für die Nationalratswahlen einteilte, fasste es deshalb den protestantischen und den katholischen Teil des Juras (zusammen mit dem Laufental) zu einem Viererwahlkreis zusammen.[3] Die Idee dahinter war, dass der liberale Südjura zusammen mit dem katholischen, aber mehrheitlich liberal wählenden Laufental den konservativen Nordjura überstimmen würde, wodurch die Katholisch-Konservativen im Jura ohne Nationalrat bleiben würden.

Bei den Wahlen 1851 ging dieser Plan zunächst gründlich daneben: Die Katholisch-Konservativen gewannen – wohl beflügelt durch den konservativen Sieg bei den Berner Grossratswahlen im Jahr zuvor – mit knappem Mehr alle vier Sitze des Wahlkreises. Der Erfolg war allerdings von kurzer Dauer. Drei Jahre strengten sich die Liberalen bei der Mobilisierung ihrer Wähler etwas mehr an; alle katholisch-konservativen Nationalräte aus dem Jura wurden wieder abgewählt. Von da an gewannen die Freisinnigen konstant jede Nationalratswahl in dem Wahlkreis. Die katholischen Jurassier blieben während Jahrzehnten ohne Vertretung im eidgenössischen Parlament.

Natürlich hätten die Freisinnigen die parteipolitischen Absichten hinter der Wahlkreiseinteilung niemals offen eingestanden. Alfred Escher, der Präsident der zuständigen Nationalratskommission, offenbarte jedoch in einem privaten Brief zumindest indirekt derartige Überlegungen ein, als er schrieb: «Es wäre doch mehr als gutmütig gewesen, die Bildung der bernischen Wahlkreise, aus denen 23 Nationalräte hervorgehen sollten, nicht von Bundes wegen festzulegen, sondern dem konservativen Grossen Rat von Bern zu überlassen!»[4]

Der Widerstand der jurassischen Katholiken gegen die Benachteiligung wuchs aber an, und mit dem Erstarken der Katholisch-Konservativen auf Bundesebene nahm der Druck zu, den Wahlkreis Jura aufzuteilen, um den Katholiken eine eigene Vertretung zu ermöglichen.

Als im Hinblick auf die Nationalratswahlen 1890 wieder einmal die Wahlkreise festgelegt werden mussten, drängte die Opposition auf einen eigenen Wahlkreis Nordjura. In der zuständigen Kommission des Nationalrats schlug die konservative Minderheit zunächst ein gänzlich neues System der Einteilung vor, nach dem in der ganzen Schweiz jeder Wahlkreis maximal drei Sitze haben sollte, unter anderem auch jener im katholischen Jura. Als sich dafür im Nationalrat keine Mehrheit ergab, liessen die Katholisch-Konservativen die Idee wieder fallen. Im Ständerat – wo sie fast die Hälfte der Sitze hatten – fand sich trotzdem eine Mehrheit für einen eigenen Wahlkreis Nordjura. Dafür hatte der Nationalrat jedoch weiter kein Gehör; er lehnte den Vorschlag der kleinen Kammer im Dezember 1889 mit 70 zu 52 Stimmen ab.

Damit stand nun das ganze Gesetz auf der Kippe. Denn im Herbst 1890 waren Wahlen, und sollten sich die Räte nicht bald einigen, drohte der Schweiz eine Wahl ohne gültiges Wahlrecht. «Jetzt stehen wir vor einer Zwangslage», konstatierte der Präsident der ständerätlichen Kommission, der konservative Obwaldner Theodor Wirz, und machte dabei keinen Hehl aus seinem Ärger über den freisinnig dominierten Nationalrat, der aus seiner Sicht für die verfahrene Situation verantwortlich war. Sollte die Jura-Frage die Schweiz in eine Staatskrise stürzen?

Der Bundesrat versuchte zu vermitteln und schlug im März 1890 einen alternativen Teilungsplan vor. Auch diesen lehnte der Nationalrat ab. Kommissionspräsident Brunner warnte in der Diskussion davor, damit würde «ein schlimmes Muster von Wahlkreisgeometrie» statuiert – eine geradezu zynische Begründung angesichts der Unverfrorenheit, mit der die Freisinnigen seit 1848 Wahlkreisgeometrie betrieben.

Schliesslich willigte die grosse Kammer doch noch in einen Kompromiss ein: Dieser sah vor, nicht alle drei Bezirke des nördlichen Juras zu einem Wahlkreis zusammenzufassen, sondern nur Porrentruy und Delémont (sowie das Laufental). Dadurch hatte der katholische Wahlkreis nur zwei statt drei Sitze.

Immerhin: Die Gefahr einer Staatskrise war gebannt. Im Juni wurde das revidierte Gesetz von den Räten verabschiedet, im Oktober fanden die Wahlen statt – und brachten dem katholischen Jura zum ersten Mal seit fast vierzig Jahren wieder einen Verteter im Nationalrat. Fortan sollten die Katholisch-Konservativen bis zur Einführung des Proporzsystems 1919 immer ein bis zwei Nationalräte stellen.[5]

Ein Wahlkreis, der den ganzen katholischen Jura umfasste, wurde aber erst 1979 Wirklichkeit, als der nördliche Teil des Juras zu einem eigenen Kanton wurde und seither bei den Nationalratswahlen einen eigenen Wahlkreis bildet.

Dieser Beitrag ist der vierte Teil der fünfteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits erschienen:

 


[1] Die Darstellungen in diesem Beitrag basieren hauptsächlich auf Gruner, Erich (1978): Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat, 1848-1919. Vgl. zum Ganzen Corina Casanova (2011): Wahlkreisgeometrie, in: Kurze Geschichten zur Demokratie.

[2] Der protestantische Teil hatte mit 31’000 deutlich weniger Einwohner, diese wählten jedoch praktisch geschlossen freisinnig, während es im Norden eine relativ starke Minderheit gab, die nicht konservativ wählte.

[3] Bei den ersten Nationalratswahlen 1848 lag die Wahlkreiseinteilung in der Zuständigkeit der Kantone. Die damalige liberale Berner Regierung wählte die gleiche Einteilung wie zwei Jahre später das eidgenössische Parlament, mit der Ausnahme, dass der Bezirk La Neuveville damals noch dem Wahlkreis Seeland zugeteilt wurde.

[4] Brief an Ludwig Snell vom 12. Dezember 1850, zitiert in: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[5] 1902 erhielt der Nordkreis aufgrund des Bevölkerungswachstums einen dritten Nationalratssitz. In der Folge kam es zum freiwilligen Proporz zwischen Konservativen und Freisinnigen, unter dem die Konservativen jeweils zwei und die Freisinnigen einen Sitz erhielten.