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Wenn ein Riemenstalder 24 mal mehr zählt als eine Gersauerin

Bei kantonalen Parlamentswahlen unterscheidet sich die Stimmkraft der Bürger in den einzelnen Wahlkreisen teilweise massiv. Das Bundesgericht könnte dies korrigieren – bislang legt es die Vorgaben der Bundesverfassung allerdings grosszügig aus.

«Legislators represent people, not trees or acres.
Legislators are elected by voters,
not farms or cities or economic interests.»
US Supreme Court, 1964

Jeder Kanton erhält zwei Sitze: Nach diesem Prinzip wird der Ständerat gewählt. Damit ist ein ungleiches Gewicht der einzelnen Stimmberechtigten bei der Wahl der kleinen Kammer bereits in der Verfassung angelegt. Eine Urnerin hat 40 mal mehr Gewicht als ein Zürcher. Das ist politisch gewollt – eben wegen des Prinzips, dass jeder Kanton gleich viele Ständeräte hat (auch wenn das Prinzip bekanntlich nicht ganz konsequent umgesetzt wird), unabhängig von der Bevölkerungsgrösse.

Doch auch bei Parlamenten, in denen die Sitze im Verhältnis zur Grösse auf die Wahlkreise verteilt werden, ergeben sich Verzerrungen hinsichtlich der Stimmkraft. Das gilt namentlich für Kantone, die teilweise sehr kleine Wahlkreise haben. Das extremste Beispiel findet sich im Kanton Schwyz: Die kleine Gemeinde Riemenstalden mit lediglich 91 Einwohnern erhält genauso einen Sitz im Kantonsrat wie das 24 mal grössere Gersau. Insgesamt hat Schwyz rund 150’000 Einwohner, für einen Sitz im 100-köpfigen Kantonsrat sind also grob 1500 Einwohner nötig. Gut ein Drittel der 30 Gemeinden, welche die Wahlkreise bilden, liegen unter diesem Wert.

In Uri gibt es ähnlich starke Verzerrungen. Den grössten Stimmkraftsunterschied findet man dort zwischen den Gemeinden Realp und Unterschächen (die je einen Sitz im Landrat haben), deren Repräsentationsverhältnis sich um den Faktor 5 unterscheidet (siehe Grafik).[1]

Solche Verzerrungen sind heikel, können sie doch einen Verstoss gegen das in der Bundesverfassung verankerte Prinzip der Wahlrechtsgleichheit darstellen. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts umfasst dieses Prinzip drei Anforderungen: Die Zählwertgleichheit (jeder Stimmberechtigte hat genau eine Stimme, nicht mehr und nicht weniger), die Stimmkraftgleichheit (jeder Stimmberechtigte zählt bei der Verteilung der Sitze gleich viel) und die Erfolgswertgleichheit (jeder Stimmberechtigte hat die gleichen Aussichten, dass seine Stimme einen zählbaren Erfolg bringt).

Immerhin ist anzufügen, dass in Kantonen wie Schwyz, in denen das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren zur Anwendung kommt, wenigstens die Erfolgswertgleichheit gewahrt bleibt. Damit hat eine Riemenstalderin genau gleich viel Einfluss auf die Verteilung der Mandate auf die Parteien wie ein Gersauer oder eine Freienbacherin. Es ist «nur» die Sitzverteilung auf die Gemeinden, die verzerrt ist. In den Kantonen Uri und Graubünden wirkt sich demgegenüber die ungleiche Stimmkraft direkt auch auf die Erfolgswertgleichheit aus.

 

Unterschiede Repräsentation

Maximale Unterschiede der Stimmkraft bei kantonalen Wahlen sowie bei den Nationalratswahlen (zum Vergrössern auf die Grafik klicken).

 

In ihrem Urteil zum Urner Wahlsystem vom Oktober 2016 stellten die Richter in Lausanne eine Verletzung des Prinzips der Erfolgswertgleichheit fest. Die Stimmkraftgleichheit sahen sie jedoch nicht verletzt, da sich die starken Verzerrungen zwischen den Wahlkreisen «sachlich rechtfertigen» liessen. Überhaupt war das Bundesgericht bisher sehr zurückhaltend darin, Verstösse gegen die Stimmkraftgleichheit zu ahnden.[2]

Wo immer mehrere Wahlkreise gebildet werden, ergeben sich fast zwingend Unterschiede in der Stimmkraft der einzelnen Bürger. Zur Frage, wie gross die Verzerrungen höchstens sein sollte, gibt es keine allgemeingültige Antwort. In den USA gelten gemäss Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs bereits Abweichungen vom durchschnittlichen Repräsentationsverhältnis von wenigen Prozentpunkten als verfassungswidrig. In Grossbritannien und Deutschland sind die Gerichte mit einer Toleranzgrenze von 25 Prozent grosszügiger. Allerdings ist das Mehrheitssystem, das in den USA und Grossbritannien (und bei den Direktmandaten in Deutschland) zur Anwendung kommt, mit dem Schweizer Proporzsystem nicht direkt zu vergleichen. Denn während sämtliche amerikanischen Wahlkreise Einerwahlkreise sind, deren Grenzen alle zehn Jahre neu gezogen werden, sind in den meisten Wahlkreise in der Schweiz mehrere Sitze zu vergeben, während die Grenzen der Wahlkreise mehr oder weniger fix sind. Nimmt man die Grenzen der Wahlkreise für gegeben an (z.B. die Kantone bei den Nationalratswahlen), ergeben sich zwangsläufig gewisse Abweichungen bei der Stimmkraft. Klar ist aber, dass diese nicht beliebig hoch sein können – zumal die Wahlkreisgrenzen keineswegs in Stein gemeisselt sind, wie das Beispiel Neuenburg oder die Diskussionen in Uri jüngst wieder gezeigt haben.

Die maximalen Unterschiede beim Repräsentationsverhältnis zwischen den Wahlkreisen  geben einen groben Überblick, wie gross die Abweichungen sind. Aufschluss über Verzerrungen der Stimmkraftgleichheit gibt auch der Gallagher-Index. Dieser misst die (Dis-)Proportionalität von Sitzverteilungen, indem er die Abweichungen von der perfekt proportionalen Verteilung summiert. In der Regel wird er für die Verteilung von Mandaten auf die Parteien bei Wahlen angewendet. Er lässt sich aber auch einsetzen, um die Verzerrung der Stimmkraft bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlkreise zu messen.

Ein Vergleich der Kantone zeigt, wenig überraschend, eine starke Korrelation zwischen Gallagher-Index und den maximalen Stimmkraftunterschieden. Hohe Gallagher-Werte (und damit eine relativ disproportionale Verteilung der Sitze) weisen darüber hinaus auch Kantone auf, die gewissen oder allen Wahlkreisen eine bestimmte Anzahl Sitze garantieren.[3] So teilt die Berner Verfassung dem Berner Jura im Vornherein 12 von 160 Sitzen im Grossen Rat zu, obwohl der Region rein rechnerisch nur 8 bis 9 zustünden (und nach dem Kantonswechsel von Moutier dereinst noch weniger). In anderen Kantonen erhalten alle Wahlkreise eine garantierte Anzahl Sitze, so in Obwalden (4 Sitze), Nidwalden (2), Appenzell-Innerrhoden (4), Basel-Land (6) und Neuenburg (8). Besonders ungewöhnlich ist die Verteilungsregel im Kanton Jura: Dort werden die garantierten Sitze (3) den Wahlkreisen unabhängig von der Zuteilung nach Bevölkerungszahl zugewiesen. Das bedeutet, dass alle drei Wahlkreise deutlich mehr als drei Sitze bekommen, die Sitzverteilung aber nur sehr entfernt mit den Verhältnissen der Bevölkerungszahlen zusammenhängt. Jura hat von allen Kantonen den höchsten Gallagher-Index, obwohl die Verzerrungen zwischen den einzelnen Wahlkreisen nicht so gross sind wie in anderen Kantonen.

Absurde Auswirkungen

Das Bundesgericht erachtet Abweichungen von der Stimmkraftgleichheit als zulässig, wenn diese durch geografische, sprachliche, historische, kulturelle, religiöse etc. Gegebenheiten bedingt sind (analog zu Einschränkungen des Prinzips der Erfolgswertgleichheit). Bei der Wahl des Nationalrats bilden die Kantone die Wahlkreise, bei den kantonalen Parlamentswahlen in acht Kantonen (in der Innerschweiz sowie den beiden Appenzell) die Gemeinden. Auffallend ist, dass in diesen Kantonen die Stimmkraft-Unterschiede unter den Wahlkreisen mit zu den grössten zählen.

Dass es sich bei den Gemeinden um historisch gewachsene Einheiten mit ausgeprägter Autonomie handelt, kann eine gewisse Einschränkung des Prinzips der Stimmkraftgleichheit legitimieren. Allerdings kann auch in diesen Fällen die Verzerrung nicht beliebig hoch sein. Jedenfalls scheint es wenig überzeugend, dass ein Riemenstalder im Kantonsrat ein 24 mal höheres Gewicht haben soll als eine Gersauerin, bloss weil man von der Idee ausgeht, dass jede Gemeinde einen eigenen Kantonsrat haben soll. Es ist ja auch nicht so, dass die Einwohner von Kleinstgemeinden kein Gewicht mehr hätten, wenn sie zu einem grösseren Wahlkreis gehörten – bloss eben nicht mehr ein extrem überproportionales. Mit Gersau ist es zudem interessanterweise eine kleine Gemeinde (2200 Einwohner), die im aktuellen System am stärksten benachteiligt wird.

Noch weniger gerechtfertigt erscheinen grobe Verzerrungen der Stimmkraft, wenn die geografischen Einheiten, an denen sich die Wahlkreise orientieren, gänzlich ohne Autonomie sind. Das ist etwa im Kanton Graubünden der Fall, wo die Mitglieder des Grossen Rats in den so genannten Kreisen gewählt werden. Die Kreise sind zwischen der kommunalen und kantonalen Ebene angesiedelt und hatten bis zum Inkrafttreten der 2012 beschlossenen Gebietsreform noch gewisse eigene Kompetenzen. Seither haben sie keine Funktion mehr, abgesehen eben davon, dass sie die Wahlkreise für das kantonale Parlament bilden.

Bundesgericht will keine neue Front eröffnen

Während das Bundesgericht den Kantonen hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit wenigstens bei Proporzwahlen relativ strikte Regeln vorgibt, fehlen solche bislang völlig, wenn es um die Stimmkraftgleichheit geht. Ein Wahlkreis mit 8 Sitzen ist verfassungswidrig, weil die Hürde für kleine Parteien zu hoch ist. Ein Wahlkreis, dessen Bevölkerung 24 mal kleiner ist als ein anderer Wahlkreis mit gleich vielen Sitzen, scheint dagegen kein Problem zu sein. Möglicherweise ist die Zurückhaltung der Richter in Lausanne damit zu erklären, dass man angesichts des bereits grossen politischen Widerstands gegen die Rechtsprechung in Wahlrechtsfragen keine neuen Fronten eröffnen möchte. Solche politischen Diskussionen entbinden Gerichte allerdings nicht von der Pflicht, sich nach den Prinzipien zu richten, die in der Verfassung verankert sind.

Denn letztlich geht es um den einzelnen Bürger, der benachteiligt wird, wenn diese Prinzipien missachtet werden. Wie stellte doch der amerikanische Supreme Court in einem Urteil 1964 fest: «Legislators represent people, not trees or acres. Legislators are elected by voters, not farms or cities or economic interests.»[4]

 

Rohdaten zum Download

 


[1] Um das Repräsentationsverhältnis zu berechnen, wurde jeweils auf die für die Verteilung der Sitze massgebliche Grösse abgestützt. In den meisten Kantonen ist das die Wohnbevölkerung, in einigen hingegen (unter anderem Uri) ist es die Schweizer Bevölkerung. Zur Ermittlung der Stimmkraftunterschiede müsste man eigentlich die Zahl der Stimmberechtigten heranziehen. Darauf wurde hier verzichtet, weil die Verzerrungen im Rahmen der jeweiligen kantonalen Regeln ermittelt werden sollte. Zudem dürften die Abweichungen von den Stimmkraftunterschieden minim sein, schliesslich zählt ein Wahlkreis, der mehr Einwohner hat, in aller Regel auch mehr Stimmberechtigte.

[2] Tomas Poledna (1988): Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, S. 78ff.

[3] Viele Kantone garantieren sämtlichen Wahlkreisen mindestens einen Sitz. Hier geht es um grössere Sitzgarantieren.

[4] Zitiert in Poledna 1988, S. 82.

Je grösser die Wahlkreise, desto fairer die Sitzverteilung

Eine Analyse der kantonalen Parlamentswahlen der letzten vier Jahre zeigt den starken Einfluss der Wahlkreisgrösse auf die Mandatsverteilung: Werden die Mandate über den ganzen Kanton hinweg verteilt, ist das Wahlergebnis weniger verzerrt.

Von Lukas Leuzinger, Sandro Lüscher und Claudio Kuster[*]

Seit dem letzten Jahr publiziert das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) zusammen mit dem Bundesamt für Statistik (BFS) eine neue Erhebung zu den Wähleranteilen der Parteien in den kantonalen Parlamenten. Die Daten geben nicht nur erstmals eine präzise Übersicht über die Parteistärken in den Kantonen, sondern bieten auch Möglichkeiten für weitergehende Analysen. So kann beispielsweise die Differenz zwischen dem jeweiligen Wähleranteil und dem Sitzanteil einer Partei berechnet werden. Diese gibt einen Hinweis darauf, wie proportional ein Wahlsystem ist.

Das geläufigste Mass dazu ist der «Index of Disproportionality», der vom Politikwissenschaftler Michael Gallagher entwickelt wurde und der in diesem Blog auch schon Beachtung fand. Der Index berechnet die Disproportionalität im Wesentlichen, indem er für jede Partei die Differenz zwischen ihrem Wähleranteil und ihrem Sitzanteil nimmt, diese quadriert (um grösseren Verzerrungen mehr Beachtung zu schenken) und alle die Werte aufaddiert («Methode des kleinsten Quadrats»).[1] Die neue Statistik lässt nun auch eine präzise Anwendung auf die Kantone zu.[2]

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

 

Die Auswertung der Daten ergibt, dass die Unterschiede zwischen Wähler- und Sitzanteilen der Parteien im Kanton Zürich am kleinsten sind.[3] Der Gallagher-Index-Wert von 0.34 bedeutet eine sehr geringe Disproportionalität, der sich – abgesehen vom verzerrungsarmen Wahlverfahren – aufgrund des schweizweit grössten Parlaments (180 Sitze) ergibt.

Akkurate Abbildung durch Doppelproporz und Einheitswahlkreis

Dahinter folgen mit Zug, Aargau, Tessin, Nidwalden und Schaffhausen weitere fünf Kantone mit tiefen Werten von 0.72 bis 1.07. Dass die Mandatsverteilung in diesen Kantonen ziemlich genau mit den Wähleranteilen der jeweiligen Parteien übereinstimmt, erstaunt ebenfalls nicht. Denn nebst Zürich haben just auch diese Kantone das doppeltproportionale Wahlverfahren (Doppelproporz) eingeführt, welches die Mandate über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien aufteilt. Das Tessin wiederum wählt – als einziger Kanton neben Genf – in einem Einheitswahlkreis. Beide Systeme lassen eine sehr genaue Abbildung der Parteistärken im Parlament zu.

Am unteren Ende der Tabelle, mit Index-Werten zwischen 3.00 und 4.00, finden sich jene Kantone mit vergleichsweise verzerrten, disproportionalen Kantonsratswahlen. Diese wählen durchwegs im herkömmlichen Hagenbach-Bischoff-Verfahren, welches die grösseren Parteien begünstigt. Auch Mindestquoren wie in Wallis, Genf und Basel-Stadt führen zu Verzerrungen – schliesslich gehen dadurch kleineren Parteien, welche diese Hürde nicht erreichen, gleich alle Mandate verlustig.

Zum Vergleich sei an dieser Stelle auch der Gallagher-Index für die Nationalratswahlen erwähnt. Bei den vorletzten Wahlen 2011 betrug er 3.66, heuer 3.70. Das ist sehr hoch – nur einer der 23 untersuchten Kantone liegt darüber. Am disproportionalsten ist das Wahlsystem gemäss der Analyse in Basel-Landschaft, das auf einen Index-Wert von 3.78 kommt. «Schuld» an diesem Spitzenplatz der basellandschaftlichen Wahlen 2015 ist mitunter das Proporzglück der SVP: Mit einem Wähleranteil von 26.7 Prozent ergatterte sie gleich 31.1 Prozent aller Landrats-Mandate (28 von 90) – eine so grosse Differenz zwischen Wähler- und Sitzanteil gibt es sonst nirgends.[4]

Starker Zusammenhang

Zwar ist der Vergleich zwischen Kantonen (ebenso wie zwischen Ländern) auf Grundlage des Gallagher-Index nicht unproblematisch, namentlich deshalb, weil die Zahl der Parteien einen Einfluss auf den Index-Wert hat (je mehr Parteien, desto höher tendenziell die Disproportionalität). Dennoch ist die Frage interessant, ob sich der Einfluss des Wahlsystems statistisch feststellen lässt. Zu diesem Zweck haben wir den Gallagher-Index in Relation zur effektiven durchschnittlichen Wahlkreisgrösse gesetzt. Diese sagt aus, auf wie viele Sitze sich die Anteile der Parteien im Durchschnitt verteilen. In den Kantonen mit Doppelproporz entspricht die effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse der Grösse des Kantonsparlaments, weil die Sitze jeweils über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien verteilt werden (die Unterzuteilung in den Wahlkreisen ändert dann an den gesamtkantonalen Sitzanteilen der Parteien nichts mehr).

Um den Einfluss der Zahl der Parteien auf den Index zu berücksichtigen, wurde zusätzlich für jeden Kanton die effektive Anzahl Parteien berechnet.[5] Anschliessend wurde eine lineare Regression durchgeführt, mit dem Gallagher-Index als abhängige Variable, der effektiven Wahlkreisgrösse als erklärende Variable sowie der effektiven Anzahl Parteien als zweite erklärende Variable bzw. Kontrollvariable.[6]

 

Variable Koeffizient Standardfehler
Effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse -0.016178 0.003476
Effektive Anzahl Parteien 0.443274 0.191682

 

Das Ergebnis stützt die Hypothese, dass die Wahlkreisgrösse einen Einfluss auf die Disproportionalität hat, klar. Gemäss der Berechnung führt eine Erhöhung der durchschnittlichen effektiven Wahlkreisgrösse um 10 Sitze im Durchschnitt zu einem um 0.16 Punkte tieferen Wert des Gallagher-Index (siehe Tabelle). Der Zusammenhang ist stark signifikant, nämlich auf dem 0.1-Prozent-Niveau. Das heisst, dass die effektive Wahlkreisgrösse mit über 99.9-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen negativen Einfluss auf den Gallagher-Index hat.

Die Zahl der Parteien hängt wie erwartet positiv mit dem Gallagher-Index zusammen. Dieser Zusammenhang ist allerdings viel weniger signifikant – und weniger wichtig: Die Wahlkreisgrösse ist für 86.2 Prozent der durch das Modell erklärten Varianz verantwortlich.[7]

 Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher-Index

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse (x-Achse) und Gallagher-Index (y-Achse). Die rote Linie zeigt die lineare Regression.

 

Abbildung 1 veranschaulicht den Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Disproportionalität. Die Verteilung der Werte legt den Schluss nahe, dass der Zusammenhang nicht linear ist, sondern umso stärker ist, je geringer die Wahlkreisgrösse ist. Das macht auch intuitiv Sinn: Eine Erhöhung der Wahlkreisgrösse von 3 auf 6 dürfte die Proportionalität des Wahlsystems deutlich verbessern. Demgegenüber ist der Effekt bei einer Erhöhung von 103 auf 106 Sitze wahrscheinlich nur noch gering.

Abbildung 2: Der Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher Index mit einer quadratischen Regression (schwarze Linie).

 

In Abbildung 2 wird der Einfluss der Wahlkreisgrösse mittels einer quadratischen Regressionskurve (mithilfe von Excel) dargestellt. Sie zeigt tatsächlich einen abnehmenden Effekt.

Quorum macht positiven Effekt zunichte

Natürlich spielen bei der Mandatsverteilung auch noch andere Faktoren eine Rolle. Beispielsweise führt ein gesetzliches Quorum, wie es immerhin zehn Kantone (in sehr unterschiedlicher Höhe) kennen, zu einer weniger proportionalen Verteilung der Mandate. Das erklärt zumindest teilweise den relativ hohen Wert des Gallagher-Index im Kanton Genf, der trotz Einheitswahlkreis im interkantonalen Vergleich im hinteren Mittelfeld rangiert. Auch das Verfahren der Mandatszuteilung (Hagenbach-Bischoff-, Sainte Laguë- oder Bruchzahlverfahren) hat einen Einfluss.

Dennoch kann als Fazit festgehalten werden: Auf je mehr Sitze sich die Parteien in einem Kanton aufteilen, desto proportionaler können ihre Mandate verteilt werden. Wie wir gesehen haben, braucht es dazu nicht zwingend einen Einheitswahlkreis. Auch wenn die Wahlkreise (wie in Zug und Nidwalden) relativ klein sind, ist eine sehr proportionale Verteilung über den ganzen Kanton möglich, indem das doppelproportionale Verfahren zur Anwendung kommt.

 


[*] Dieser Beitrag wurde bereits am 13.05.2015 publiziert und hier in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung wiederveröffentlicht.

[1] Zu beachten ist, dass die Methode lediglich eine Aussage über die Proportionalität einer Mandatsverteilung einer konkreten Wahl macht und nicht aber über die Proportionalität des Wahlsystems an sich. Schliesslich kann auch ein sehr unfaires Wahlsystem durch Zufall die Wähleranteile ziemlich adäquat abbilden. Wie nicht zuletzt dieser Beitrag zeigt, erlaubt der Index dennoch Aussagen zum Wahlsystem.

[2] Für die Kantone Graubünden und die beiden Appenzell, deren Parlamente (weitestgehend) im Mehrheitswahlsystem gewählt werden, liegen keine Daten zu den Wähleranteilen vor, weshalb sie hier nicht berücksichtigt werden können.

[3] Zur Methodik: Untersucht wurden Wähler- und Sitzanteile in 23 Kantonen. Berücksichtigt wurden alle kantonalen Wahlen bis Oktober 2014 (die letzte war jene im Kanton Zug). Die Anteile von Parteien, die als «Übrige» aufgeführt sind, wurden in der Analyse nicht berücksichtigt.

[4] Adrian Vatter hat in seinem Buch «Das politische System der Schweiz» ebenfalls den Gallagher-Index für die Kantone berechnet. Er stützte sich dabei auf etwas weniger präzise Zahlen. Zudem ist der Erhebungszeitpunkt nicht der gleiche wie bei der vorliegenden Analyse. Dennoch kommt er auf vergleichbare Ergebnisse. Gemäss seinen Berechnungen weist der Kanton Tessin die niedrigste Disproportionalität auf (1.6), Uri die höchste (7.0).

[5] Die effektive Anzahl Parteien (effective number of parties) erhält man, indem man die Wähleranteile aller Parteien quadriert, die erhaltenen Werte zusammenzählt und anschliessend den Kehrwert der Summe berechnet.

[6] Für die Berechnung wurde das Statistik-Programm «R» verwendet.

[7] Die vollständige statistische Auswertung ist hier verfügbar.

Doppelproporz Schwyz: «Kuckuckskinder» nicht im Sinne der Erfinder

Auch im Kanton Schwyz könnte alsbald der Doppelproporz eingeführt werden. Leider aber ohne die vorhersehbaren heiklen Sitzverschiebungen in den 17 Kleinstwahlkreisen zu beachten, wie es von seinen «Erfindern» empfohlen wird.

Zwar zählt im Gegenvorschlag «Kantonsproporz» tatsächlich jede Stimme in Schwyz, doch…

Am kommenden Wochenende stimmt der Kanton Schwyz über die Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der Schweizerischen Volkspartei ab. Wie vor kurzem in diesem Blog beleuchtet, würde dadurch ein einphasiges Mehrheitswahlverfahren (ohne absolutes Mehr) eingeführt, wie es insbesondere in Grossbritannien Tradition hat – und dort just dieser Tage aufgrund seiner augenscheinlicher Mängel unter Druck steht (siehe Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien).

Die Regierung und der Kantonsrat empfehlen daher den Schwyzerinnen und Schwyzern diese angelsächsische Importsendung zu refüsieren und stattdessen auf heimischere Qualitätsware zu setzen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich auch dieser direkte Gegenvorschlag «Kantonsproporz mit Sitzgarantie» als nicht gänzlich unproblematisch. Er würde zwar die Kantonsverfassung lediglich mit einem unspektakulären neuen Absatz ergänzen: «Der Kantonsrat wird nach dem Verhältniswahlverfahren (Proporz) gewählt.»[1]

Die einzelnen Wahlkreise dieses Proporzes entsprächen aber wie bisher den 30 politischen Gemeinden des Kantons. Während dem alten Schwzyer «Mischsystem Majorz/Proporz» 2013 die Gewährleistung durch die Bundesversammlung versagt wurde, konnte diese Verfassungsbestimmung ins Trockene gerettet werden.[2] Obschon hierdurch teilweise sehr kleine Wahlkreise entstehen, die eigentlich nur Anrecht auf einen kleinen Bruchteil eines Kantonsratssitzes hätten, so symptomatisch die 56-Stimmbürger-Gemeinde Riemenstalden, der kleinste Wahlkreis der Schweiz. Eigentlich ist das Dorf 17-mal zu klein für einen ganzen Kantonsratssitz.

Um dennoch in diesen althergebrachten, kleinräumigen Stukturen im Proporz wählen zu können, träte nach erfolgreicher Volksabstimmung zusätzlich automatisch ein neues Wahlgesetz in Kraft.[3] Wie kürzlich in den Nachbarkantonen Nidwalden und Zug gelangte auch am Fusse der Mythen ein Doppelproporz zur Anwendung, der die 100 Kantonsratsmandate zuerst fair auf gesamtkantonaler Ebene auf die Parteilisten verteilen würde. Damit auch kleinere bis mittelgrosse Parteien gleichwertige Chancen auf das eine oder andere Mandat haben.

«Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Bekanntlich birgt dieses Verfahren aber den Nachteil, dass der Proporz gesamtkantonal zwar perfekt abgebildet wird, aber innerhalb der einzelnen Wahlkreis nicht zwingend. Mit lokalen Sitzverschiebungen da und dort ist zu rechnen, weil letztlich die Korrekturen, die zur optimalen kantonsweiten Repräsentation führen, irgendwo getätigt werden müssen. Solche potentiellen «gegenläufigen Sitzverschiebungen»[4] – dass also Partei A mehr Mandate erhält als Partei B, obschon A weniger Stimmen erzielte als B – werden von den Gegnern des Doppelproporz-Gegenvorschlags denn auch genüsslich ausgebreitet, um diese Methode zu diskreditieren.

Im Duktus der Majorz-Freunde wird unter dem Stichwort «Kuckuckskinder» im aktuellen Abstimmungsbüchlein gewarnt: «Ein Teil der Stimmen aus einem Wahlkreis wirkt sich mitunter massiv in anderen Wahlkreisen aus. In nicht unwahrscheinlichen Fällen verfälschen alle Stimmen für eine Partei in einer anderen Gemeinde das Resultat. Somit können die grösseren Wahlkreise […] das Bild in Einerwahlkreisen zu 100 % verfälschen. Dann nämlich, wenn nicht diejenigen gewählt werden, die vom Gemeindebürger am meisten Stimmen erzielt haben, sondern dank Fremdstimmen Kandidaten mit (deutlich) weniger Zustimmung.» Xaver Schuler, Präsident der SVP Schwyz, sekundiert im Abstimmungs-Flyer: «Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Wie wahrscheinlich und wie störend sind derlei Sitzverschiebungen in der antizipierten Schwyzer Praxis tatsächlich? Um die Tendenzen abschätzen zu können, haben wir für Schwyz den Doppelproporz modelliert, jedoch nicht – wie dies bisher naheliegenderweise getan wurde[5] – anhand der Stimmenzahlen der letzten Kantonsrats-, sondern der Nationalratswahlen 2011. Denn bei den kantonalen Wahlen traten gerade in den (diese Analyse betreffend heiklen) sehr kleinen 17 Wahlkreisen mit bloss einem oder zwei Sitzen oftmals nur wenige Gegenkandidaten an: In 10 der 13 Einerwahlkreise gab es sogar überhaupt keine (!) Konkurrenz, weshalb hiermit das effektive Wählerverhalten nicht adäquat nachgebildet werden kann.

Anders bei den letzten Nationalratswahlen: Alle 17 Wahllisten, auch kleinere wie jene von Gewerkschaftsbund, BDP oder Junge SVP, konnten von allen Stimmbürgern eingeworfen werden – auch in Riemenstalden:[6]

NR 2011 SZ als KR-BiProp

 

Wie stark würde nun «geschoben», wie die SVP warnt? In der Tat wären etwa eine Hand voll gegenläufige Sitzverschiebungen innerhalb der 30 Wahlkreise aufgetreten. Dass also beispielsweise die EVP in Arth einen Sitz erhält, ist (speziell aus Sicht der dortigen BDP-Sektion) zwar unschön, doch irgendwo muss der EVP nun einmal ihr (einziges) Mandat zugewiesen werden, auf das sie gemäss Oberzuteilung Anrecht hat. Und in Arth liegt die EVP eben einem Kantonsratsmandat am nächsten – daher erhält sie es dort.

Doch diese kleineren Verschiebungen sind nicht tragisch, ja gerade dem Wahlsystem inhärent. Sie treten denn übrigens nicht nur im Doppelproporz auf, sondern ebenso in Wahlkreisverbänden (also in BL und LU), ja selbst im herkömmlichen Verfahren «Hagenbach-Bischoff» mit Listenverbindungen (AR, BE, GE, GL, LU, NE, OW, SG, TG, UR sowie Nationalrat). – Dort merkt und stört es interessanterweise aber kaum jemanden.[7]

Majorzbedingung für Kleinstwahlkreise vergessen

Mehr als unschön erscheinen aber jene drei Sitzverschiebungen, in denen der jeweils bestgewählten Partei im Wahlkreis ein Mandat verlustig geht, ja diese – zum Kuckuck! – gar mit völlig leeren Händen da steht. Hier wird das so genannte Mehrheitskriterium verletzt.[8] Dieses Paradoxon kann praktisch nur in Kleinstwahlkreisen auftreten – wie sie gerade in Schwyz stark verbreitet sind. Und, als hätte es die SVP geahnt: In allen drei Fällen (Illgau, Innerthal und Rothenthurm) müsste die SVP das lokale, einzige Mandat an eine schwächere Partei abgeben.

Muss nun, wer auf den Doppelproporz setzt, zwangsläufig mit letzteren, groben Anomalien leben? Im Gegenteil. Die Mitentwickler Friedrich Pukelsheim und Christian Schuhmacher hielten schon vor Jahren in einem Aufsatz fest: «[Es] kann in Wahlkreisen zu gegenläufigen Sitzzuteilungen kommen. Angesichts der hohen Abbildungsgenauigkeit des Doppelproporzes ist es zwar eher unwahrscheinlich, aber eben doch möglich, dass der einzige vorhandene Sitz an die zweitstärkste Liste geht oder eine andere, aber eben nicht an die stärkste. Der Aufschrei bei der betroffenen Partei und in der Bevölkerung wäre dann wohl laut gewesen.» Der Unmut der Wähler müsse aber nicht hingenommen werden, da sich das Problem beheben lasse. «In der Tat lässt sich der Majorz in den Doppelproporz einbetten. Es reicht, im Gesetz bei der Festlegung der Unterzuteilung eine ‹Majorzbedingung› […] hinzuzufügen. […] Die Majorzbedingung klingt sehr allgemein, bewirkt aber für die Einerwahlkreise das Gewünschte: Der eine Sitz geht an die stärkste Liste.»[9]

Dieses wahlrechtliche Essentialium wurde immerhin in der Vernehmlassung von einigen aufmerksamen Akteuren eingebracht[10], jedoch weder von Regierung (aus ausweichenden Gründen), noch Kommission oder Parlament aufgegriffen. Der Regierungsrat schrieb, «der vorgeschlagene Doppelproporz [entspricht] dem Wahlsystem des Kantons Nidwalden, das keine Majorzbedingung kennt»[11] – Nidwalden kennt aber auch nur einen einzigen Kleinwahlkreis; ausser Emmetten (zwei Sitze) erhalten alle Wahlkreise drei oder mehr Sitze. Auch hätte man statt über den Vierwaldstättersee einen Blick über den nächsten Hügel nach Nordwesten werfen dürfen: Zug wählt ebenso im Doppelproporz – aufgrund seiner beiden Zwei-Sitz-Wahlkreise inklusive Majorzbedingung.[12]

Wie weiter mit den «Kuckuckskindern»?

Was könnte Schwyz nun tun? Das Kind mit dem Bade ausschütten und tatsächlich zurück zum «einfachen und verständlichen Majorz»? Oder doch in den sauren Proporz-Apfel beissen?

Die eleganteste Möglichkeit wäre wohl, es dem Kanton Schaffhausen gleich zu tun. Auch dieser wählt im kommenden Jahr seinen Kantonsrat im Doppelproporz. Und auch er hat einen kleinen Einerwahlkreis – und unterliess bisher die Implementierung der Majorzbedingung. Doch heuer will die Regierung diesen Makel noch rechtzeitig beheben.[13]

Eine zweite Variante bestünde darin, das Grundproblem zu beheben, welches den gezeigten verletzten Mehrheitsbedingungen zugrunde liegt: die 17 Miniwahlkreise, insbesondere die viel zu kleinen Einerwahlkreise. Hier setzt genau die Volksinitiative «Für gerechte Proporzwahlen» der kleinen Parteien und der SP an, die vom Parlament bereits durchberaten und somit abstimmungsreif ist, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt vors Volk gelangen soll (sofern sie nicht zurückgezogen wird). Zwar schreibt dieses Volksbegehren kein bestimmtes Proporzwahlsystem vor, geschweige denn eine konkrete neue Wahlkreiseinteilung. Jedoch würde sie die geltende Sitzgarantie für alle 30 Schwyzer Gemeinden aus der Verfassung streichen, was als Signal interpretiert werden müsste, diese aufzulockern.

Drittens schliesslich könnten die ersten Wahlen im neuen doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren einfach mal abgehalten werden, im Wissen, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit noch die eine oder andere Kinderkrankheit auftreten wird. Diese könnten während der nächsten Legislatur in Ruhe analysiert und durch eine nachhaltigere Lösung behoben werden.

Letztendlich entbehrt die «ewige» Schwyzer Wahlrechtsreform nicht einer gewissen Ironie: Die Stimmbürger können nun zwischen einem etwas unausgereiften Proporz und einem radikal-anachronistischen Majorz auswählen – optimal wäre ein kluger Mix zwischen beiden gewesen.

 


[1] § 48 Abs. 3 KV/SZ. Dazu stiesse noch ein zweiter Satz: «Das Gesetz kann Mindestquoren vorsehen.» Im ausführenden revidierten Kantonsratswahlgesetz (§ 16 Abs. 3 KRWG; siehe Fn. [3]) würde ein Quorum von 1 Prozent vorgesehen, das genau dem Idealanspruch eines Mandats entspricht.

[2] § 48 Abs. 2 KV/SZ wurde gewährleistet, womit die Mindestsitzgarantie für alle 30 Gemeinden erhalten bleiben konnte (BBl 2013 2621). Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe BGE 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011 vom 19. März 2012 sowie Yvo Hangartner (2012): Entscheidbesprechung 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011, AJP 6/2012, 846 ff.; Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zur Verfassungsreform im Allgemeinen: Paul Richli (2012): Zur neuen Schwyzer Kantonsverfassung – Mehr als eine Kopie oder ein Verschnitt, ZBl 113/2012, 391 ff.; Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99. Vgl. zur Gewährleistungdebatte: Pierre Tschannen (2014): Die Schwyzer Kantonsverfassung, das Bundesgericht und die Bundesversammlung – Ein Lehrstück, in: Berner Gedanken zum Recht – Festgabe der Rechtswisschenschaftlichen Fakultäten der Universität Bern für den Schweizerischen Juristentag 2014, 2014, 405 ff.

[3] Kantonsratswahlgesetz vom 17. Dezember 2014 (KRWG) (publ. im Amtsblatt Nr. 51 vom 19. Dezember 2014, S. 2822 ff.)

[4] Vgl. Friedrich Pukelsheim/Christian Schuhmacher (2004): Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, AJP 5/2004, 519; dies. (2011): Doppelproporz bei Parlamentswahlen – ein Rück- und Ausblick, AJP 12/2011, 1589.

[5] Zwar hat Regierungsrat Rüegsegger in der Kantonsratsdebatte verlauten lassen: «Wichtig ist auch noch, dass bis jetzt bewusst darauf verzichtet worden ist, irgendwelche Modellrechnungen anzustellen. Wir haben weder innerhalb von der Regierung, der Verwaltung aber auch nicht mit der Kommission irgendwelche hypothetische Modellrechnungen gemacht, mit welchen wir einschätzen könnten, bei welchem System wer wieviel gewinnt oder verliert. […] Ich bin Ihnen letztlich dankbar, dass dies von Ihnen so akzeptiert worden ist und wir nicht mittels parlamentarischem Vorstoss dazu genötigt worden sind, irgendwelche hypothetischen Modellrechnungen abzugeben.» (Verhandlungsprotokoll, ao. Sitzung vom 19.11.2014, S. 994) Jedoch haben diverse Akteure sehr wohl Berechnungen angestellt, aber so weit ersichtlich nur mit den (unzulänglichen) Daten der Kantonsratswahlen: Vgl. Schwyzer Volksblatt der SVP, Februar 2015, S. 4 («[…] wir haben mit den Wahlstimmen von 2012 die Wahl nach den Regeln des Doppelten Pukelsheim simuliert.»); ebenso eine Maturaarbeit des späteren Beschwerdeführers vor Bundesgericht (1C_445/2011) sowie Parteisekretärs der FDP Schwyz für die Kantonsratswahlen 2008: Flavio Kälin (2008): Kanton Schwyz – Wahlsysteme für Kantonsratswahlen, Kantonsschule Kollegium Schwyz, Anhang 1.

[6] Bei der Zuhilfenahme der Daten der Nationalratswahlen stellt sich aber die Frage, wie mit den damaligen Kleinparteien und Nebenlisten umzugehen sei. Würden auch die Jungparteien JSVP, JCVP und JUSO mit eigener Liste(ngruppe) antreten? Selbst ob die im Kantonsrat bisher gar nicht vertretenen BDP und EVP sowie die Grünen (1 Mandat) je eigene Listen aufstellen würden, ist unklar. Wir haben daher vier Varianten untersucht, ausgehend von 17 parallelen Listen gemäss Nationalratswahl bis hin zu relativ kompakten, konsolidierten Listengruppen gemäss den damaligen Listenverbindungen:

  • Variante A: alle 17 Listen gemäss NR 2011, je separat
  • Variante B: Listen mit Wähleranteil <1 % zu Stammliste addiert (aufgrund des vorgesehenen Mindestquorums von 1 %)
  • Variante C: alle Listen zu einparteiigen Listengruppen addiert
  • Variante D: Listengruppen gemäss Listenverbindungen NR 2011; ausser BDP separat

Letztendlich wird Variante C, die oben präsentierte Variante, wohl der Realität am nächsten kommen. Die anderen Varianten A, B und D wie auch Variante C inklusive der hier vorgestellten Majorzbedingung können hier betrachtet werden. Letztlich finden die verletzten Mehrheitskriterien in ähnlicher Form und Anzahl auch bei den anderen Varianten statt.

[7] Die mathematischen Gegebenheiten anerkennend, hat denn auch das Bundesgericht gegenläufige Sitzverschiebungen (hier noch Wahlkreisverbände betreffend) als zulässig taxiert: BGE vom 09.12.1986, ZBl 1987, 367 ff.; BGE 1P. 671/1992 vom 08.12.1993, ZBl 10/1994, 483 ff.

[8] Das Mehrheitskriterium (auch: Mehrheitsbedingung, Majority criterion) verlangt, dass aus einer (bestimmten) Mehrheit an Stimmen eine Mehrheit an Sitzen resultiert. Vgl. auch (die absolute Mehrheit betreffend) Pukelsheim/Schuhmacher (2004), 520.

[9] Pukelsheim/Schuhmacher (2011), 1597 (Hervorhebungen durch den Verfasser).

[10] Den majorzbedingten Doppelproporz regten die Vernehmlassungsantworten an von: FDP des Kantons Schwyz, Gemeinde Sattel sowie diejenige des Verfassers dieses Beitrags.

[11] Beschluss Nr. 659/2014 des Regierungsrat des Kantons Schwyz, Initiative «Für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» mit Gegenvorschlag, 17. Juni 2014, S. 13. Die dort skizzierte, theoretisch mögliche Diskrepanz zwischen (zu geringer) Oberzuteilung und (zu zahlreicher) via Majorzbedingung zugewiesener Mandate wäre durchaus zu beheben, bspw. durch eine nur subsidiäre Majorzbedingung, siehe Claudio Kuster (2014): Vernehmlassungsantwort: Kantonsratswahlen: Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Kantons Schwyz, S. 8 ff.

[12] Aus dem Zuger Wahlgesetz sollte man die Majorzbedingung indes besser nicht abschreiben. Denn wird dort nicht nur das Mindestquorum falsch berechnet, sondern auch die Majorzbedingung fehlerhaft legiferiert, vgl. Claudio Kuster (2014): Kritik: Doppelproporz im Wahlgesetz Zug, S. 1

[13] Kanton Schaffhausen: Schwerpunkte der Regierungstätigkeit 2015, vom Regierungsrat beschlossen am 06.01.2015, S. 16.

Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien

In seinem Mutterland Grossbritannien kommt das Mehrheitswahlsystem unter Druck. In Schwyz dagegen könnte es bald ein Revival erleben.

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Lange war das Majorzsystem in Grossbritannien so unbestritten wie die Queen oder die allgemeine Überzeugung, dass Blutwurst zu einem ordentlichen Frühstück gehöre. Das System der (relativen) Mehrheitswahl (im englischen Sprachraum «First-past-the-post» bzw. FPTP genannt) war derart typisch britisch, dass es weitherum als «Westminster System» Bekanntheit erlangte.[1]

Vor den Unterhauswahlen am 7. Mai ist der Majorz im Königreich allerdings so stark in Frage gestellt wie nie zuvor. Denn es wird immer offensichtlicher, dass das britische Wahlsystem immer weniger zum heutigen britischen Parteiensystem passt.

Die Mitglieder des House of Commons werden traditionell in Einerwahlkreisen gewählt, und zwar nach relativem Mehr. Das heisst, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, auch wenn er keine Mehrheit erlangt hat. Dieses Verfahren gibt den Wählern einen starken Anreiz, ihre Stimme einer grossen Partei zu geben. Denn um realistische Chancen auf den Sieg zu haben, muss eine Partei in einem Wahlkreis mindestens 25 oder 30 Prozent der Wähler hinter sich haben.[2]

Als Folge davon wird die britische Politik traditionell von zwei Parteien dominiert[3] – zunächst von Konservativen und Liberalen, seit den 1920er Jahren von Konservativen und Labour. In der Blütezeit des Zwei-Parteien-Systems teilten Tories und Labour 97 Prozent der Stimmen unter sich auf.

Vom Zwei- zum Sechs-Parteien-System

Von einem solchen Anteil können sie heute nur träumen: Gemäss den Umfragen dürften sie am 7. Mai zusammen noch auf etwas über 60 Prozent kommen. Denn entgegen der Logik der relativen Mehrheitswahl wird die politische Landschaft in Grossbritannien immer vielfältiger. Als dritte Kraft neben Labour und Konservativen haben sich in jüngerer Vergangenheit die Liberaldemokraten etabliert. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums erfährt die EU-skeptische UKIP regen Zulauf. Und ganz links haben die Grünen nach Jahren der Bedeutungslosigkeit in den Umfragen einen kometenhaften Aufstieg hingelegt.

Parallel dazu haben sich mit der Scottish National Party (SNP) in Schottland und Plaid Cymru in Wales regionale Parteien etabliert.[4] Die Scottish National Party (SNP) hat Labour im schottischen Parlament längst als stärkste Kraft abgelöst. Im Unterhaus ist sie bisher mit 6 Sitzen (von 59 in Schottland) schwach vertreten, dürfte allerdings deutlich zulegen.

Starke Verzerrung

Das britische Wahlsystem vermag diese Vielfalt immer weniger abzubilden; Vieles deutet darauf hin, dass die Verzerrung des Wählerwillens tendenziell zunehmen wird. Die Konservativen und Labour werden zwar die grössten Parteien bleiben, dürften aber deutlich mehr Sitze erringen, als es ihren Wähleranteilen entsprechen würde. Umgekehrt dürften kleinere Parteien schlecht bedient werden oder ganz vom Parlament ausgeschlossen bleiben.

Doch das ist nicht die einzige Ungerechtigkeit: Denn das Wahlsystem benachteiligt nicht einfach kleine Parteien, sondern vor allem kleine Parteien, deren Wählerschaft besonders breit gestreut ist. So könnte die UKIP weniger Sitze erringen als die SNP, obschon sie mehr Wähler hat (gemäss Umfragen dürfte die UKIP auf 10 bis 20 Prozent kommen). Denn die SNP tritt zwar nur in Schottland an, ist dort dafür eine Macht. Die UKIP dagegen hat zwar im ganzen Land Anhänger, aber eben nirgends wirklich viele.

Bei den Wahlen am 7. Mai dürfte die Sitzverteilung daher so verzerrt sein wie selten zuvor. Das weckt inzwischen selbst bei Tories – eigentlich bedingungslose Verfechter von FPTP – Zweifel am Wahlsystem. Der konservative «Telegraph» berichtete kürzlich besorgt darüber, dass Labour bei den Unterhauswahlen weniger Stimmen als die Konservativen holen und am Ende trotzdem als Siegerin dastehen könnte.

Ob dieses Szenario eintreffen wird, ist offen. Wahrscheinlich ist hingegen, dass Grossbritannien nach dem 7. Mai weiter von einer Koalition regiert werden wird – keine gute Nachricht für ein Wahlsystem, das dafür gelobt wird, dass es stabile Regierungen hervorbringt.

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Gesellschaftlicher Wandel

Während die relative Mehrheitswahl in ihrem Mutterland zunehmend in Frage gestellt wird, könnte sie an einem anderen Ort bald ein Revival erleben: Im Kanton Schwyz kommt am 8. März eine Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der SVP zur Abstimmung, welche die relative Mehrheitswahl in der Verfassung verankern will. Dies, nachdem das bisherige Wahlsystem vom Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt worden war.[5]

Ob das vorgeschlagene Majorzsystem mit dem in der Bundesverfassung verankerten Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit vereinbar ist, ist fraglich, insbesondere nachdem das Bundesgericht in einem kürzlichen Urteil zu Appenzell Ausserrhoden ziemlich strikte Bedinungen an den Majorz gestellt hat.[6]

Davon abgesehen stellt sich auch die Frage, ob der Majorz für den Kanton Schwyz das geeignete System darstellt. Das Parteiensystem in Schwyz ist noch diversifizierter als jenes in Grossbritannien: Im Kantonsrat sind trotz der grösstenteils sehr kleinen Wahlkreisen sechs Parteien vertreten.[7]

Zudem haben Grossbritannien und die Schweiz zumindest eines gemeinsam: den Trend der sinkenden Parteibindung.[8] Anders als früher lassen sich Wähler heute nicht mehr so leicht in bestimmte Kategorien zwängen. Die homogene Arbeiterschaft, die früher geschlossen Labour beziehungsweise die Sozialdemokraten unterstützte, gibt es nicht mehr.

Dass ein mittelständischer Büroangestellter in Südengland seine Stimme den Konservativen gibt, ist heute so wenig selbstverständlich, wie dass ein Kleinunternehmer in Zürich die FDP wählt oder ein Bergbauer in Uri die CVP. Die Einstellungen der Bürger sind heute vielfältiger, sie lassen sich nicht mehr in einem eindimensionalen Zwei-Parteien-System abbilden. Doch je mehr Parteien es gibt, desto stärker wird im Majorz der Wählerwillen verzerrt.

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels stellt sich die Frage, wie angemessen das (relative) Mehrheitswahlsystem in der heutigen Zeit noch ist. Man darf gespannt sein, welche Antworten die Schwyzer und die Briten auf diese Frage finden.

 

Einen sehr lesenswerten Artikel zum Thema hat jüngst der «Economist» publiziert.

 


[1] Nach dem Gebäude, in dem das britische Parlament untergebracht ist.

[2] Der tiefste Wähleranteil, der je zum Sieg reichte, waren 26.0 Prozent. Das sind beinahe schon philippinische Verhältnisse (siehe Lotterie um das Präsidentenamt).

[3] Die Politikwissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von «Duvergers Gesetz».

[4] Auch in Nordirland gibt es regionale Parteien, dort waren die Konservativen und Labour aber ohnehin nie vertreten.

[5] Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zum Ganzen: Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99.

[6] BGE 1C_59/2012 und 1C_61/2012 vom 26. September 2014, E. 12.5.3. Vgl. kritisch gegenüber dem Majorz: Daniel Bochsler (2015): Die letzte Bastion der Unparteilichkeit fällt, Napoleon’s Nightmare 09.02.2015 (sowie in «St. Galler Tagblatt», 14.02.2015 und «Urner Wochenblatt», 20.02.2015); ebenso Andrea Töndury (2012): Die «Proporzinitiative 2014» im Kanton Graubünden, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden (ZGRG), Nr.2/2012, S. 64 ff. und ders. (2013): Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen, in: Andrea Good/Bettina Platipodis (Hrsg.), Direkte Demokratie – Herausforderungen zwischen Politik und Recht – Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag, Bern 2013, S. 51 ff. Den Majorz befürwortend: Georg Müller (2015): Sind Wahlen von Parlamenten nach dem Majorzsystem verfassungswidrig?, SJZ Nr. 4/2015, 103 ff. Zur Zulässigkeit der relativen Mehrheitswahl, so weit ersichtlich, bisher nur der bejahende Entscheid vom 15. März 2013 des Verfassungsgerichts Nidwalden (VG 12 1), Tschopp/Amstutz gg. Landrat NW i.S. Zulässigkeit des Gegenvorschlages des Referendumskomitees «Majorz: Kopf- statt Parteiwahlen» zur Teilrevision des Gesetzes über die Verhältniswahl des Landrates. Vgl. zum Ganzen auch: Erich Aschwanden (2014): Majorz-Initiative mit Nebenwirkungen, NZZ vom 15. November 2014.

[7] Bei den letzten Nationalratswahlen 2011 traten im Kanton Schwyz (für die bloss vier Sitze) sogar 17 Listen an.

[8] Vgl. hierzu Entzauberte Konkordanz und Die Bürger nicht erst am Schluss fragen.

Die Zuger Wahlhürde wird zum Stolperstein

Die Sperrquote für den Zuger Kantonsrat gibt weiter zu reden. Denn nun stellt sich heraus, dass die Berechnung des 3-Prozent-Quorums verzerrt ist. So können bei den Wahlen im Oktober auch Parteien mit weniger als 3 Prozent Wähleranteil die Hürde überspringen.

Bei der Berechnung des 3-Prozent-Quorums im Kanton Zug haben die Stimmen unterschiedliches Gewicht.

Publiziert (leicht gekürzt) in der «Neuen Zuger Zeitung» vom 09.05.2014.

Die Sperrquote für die Parlamentswahlen im Kanton Zug beschäftigt die Politik weiter. Zwar ist das Bundesgericht auf eine Beschwerde der Piratenpartei nicht eingetreten, die das Quorum kippen wollte.

Damit ist das Thema allerdings nicht vom Tisch. Denn wie sich jetzt herausstellt, basiert die Berechnung des Quorums auf einer falschen Grundlage. Dadurch werden Stimmen aus grossen Wahlkreisen überproportional stark gewichtet.

Rückblende: 2011 erklärte das Bundesgericht das Wahlsystem für die Kantonsratswahlen in Zug für verfassungswidrig. Der Grund: In vielen Wahlkreisen sind so wenige Sitze zu vergeben, dass kleine Parteien praktisch chancenlos sind und viele Wählerstimmen ohne Wirkung bleiben.

Der Regierungsrat schlug daraufhin vor, das so genannte doppeltproportionale Zuteilungsverfahren – besser bekannt unter dem Namen «doppelter Pukelsheim» – einzuführen. Bei diesem werden die Sitze zunächst über das ganze Wahlgebiet hinweg auf die Parteien verteilt, sodass weniger Stimmen verloren gehen.

Eine Mehrheit des Kantonsrats war allerdings der Meinung, dass der Sprung ins Parlament für kleine Parteien dadurch allzu leicht würde. Um eine «Zersplitterung» des Kantonsrats in Kleinstgruppen zu verhindern, baute sie eine Hürde ins Gesetz ein: Eine Partei sollte nur zur Sitzverteilung zugelassen werden, wenn sie auf mindestens 5 Prozent Wähleranteil in einem Wahlkreis oder 3 Prozent im ganzen Kanton kommt. In dieser Form wurde das neue Gesetz vom Parlament gutgeheissen.

Ungleiches Gewicht

Der Teufel steckt jedoch im Detail, genauer: in der Berechnung dieser 3 Prozent. Im Wahl- und Abstimmungsgesetz heisst es wörtlich, eine Liste müsse «im gesamten Kanton mindestens 3 Prozent aller Parteistimmen» auf sich vereinen.

Die Parteistimmen eignen sich zur Berechnung des Wähleranteils allerdings nicht. Denn in grossen Wahlkreisen hat jeder Wähler mehr Parteistimmen zu vergeben als in kleinen. So hat ein Wähler in Zug (19 Sitze) fast zehnmal so viele Parteistimmen wie ein Wähler in Neuheim (2 Sitze). Bei der Berechnung des Quorums erhalten die grossen Wahlkreise somit ein überproportional hohes Gewicht. Um diese Verzerrung zu beheben, müssen die Parteistimmen in Relation gesetzt werden zur Anzahl Sitze im betreffenden Wahlkreis. Dadurch erhält man die so genannte Wählerzahl.

Tatsächlich nimmt das Gesetz bei der Sitzzuteilung die Wählerzahlen als Grundlage. Auch beim Quorum war in der ursprünglichen Version noch von der «Wählerzahl» die Rede. Dann jedoch ersetzte die Redaktionskommission die Formulierung durch «Parteistimmen». Der Kantonsrat winkte die Änderung in der zweiten Lesung durch.

«Ich ging damals davon aus, dass das lediglich eine begriffliche Anpassung ist», sagt Heini Schmid (CVP), der Präsident der vorberatenden Kommission. «Wir konnten ja nicht ahnen, dass sich dadurch inhaltlich etwas ändert.»

Als erster auf das Problem aufmerksam geworden ist Claudio Kuster, der politische Sekretär des Schaffhauser Ständerats Thomas Minder.[1] Er kennt das Pukelsheim-System aus seinem eigenen Kanton und interessierte sich deshalb auch für das neue Verfahren in Zug.

Mehrere Fachleute bestätigen auf Anfrage, dass die veränderte Formulierung die Berechnung des Quorums verzerrt. «Auf diese Weise werden Parteien bevorteilt, die in grossen Wahlkreisen stark sind», sagt Daniel Bochsler, Politikwissenschafter an der Universität Zürich. Andererseits werde für Parteien, die in kleinen Wahlkreisen viele Stimmen holen, die Hürde höher. Bochsler relativiert jedoch, dass die Unterschiede nicht riesig seien. Zudem gebe es ja noch ein 5-Prozent-Quorum in jedem Wahlkreis. Eine Partei mit vielen Wählern in einem kleinen Wahlkreis könnte also auch dort die Hürde überspringen.

«Die Redaktionskommission hat die Formulierung verschlimmbessert», sagt Andrea Töndury, Staatsrechtler an der Universität Zürich. Auch die Direktion des Innern bestätigt, dass die geänderte Formulierung die Berechnung verändert.

Arthur Walker (CVP), der Präsident der Redaktionskommission, reagiert auf Anfrage ausweichend. Der Begriff «Parteistimmen» sei verständlicher als die ursprüngliche Formulierung, rechtfertigt den damaligen Entscheid des Gremiums. Ohnehin seien die beiden Berechnungsarten «nicht grundsätzlich verschieden».

Korrektur gefordert

Für seinen Parteikollegen Heini Schmid hingegen ist klar, dass der Artikel nicht so stehen bleiben kann. Er will aber zunächst wissen, ob das Quorum grundsätzlich zulässig ist. Das Bundesgericht hatte sich dazu nicht geäussert – es war auf die Beschwerde der Piraten gar nicht eingetreten, weil diese seiner Ansicht nach zu spät eingereicht wurde. Noch hängig ist hingegen eine Beschwerde der Piratenpartei in der Stadt Zürich. Falls die dortige 5-Prozent-Hürde gerichtlich abgesegnet wird, wäre wohl auch die Zuger Sperrquote zulässig. In diesem Fall könnte man die Formulierung im Gesetz anpassen, sagt Schmid. Er kann sich vorstellen, dazu eine Motion im Kantonsrat einzureichen.

Klar ist: Für die Kantonsratswahlen im Oktober käme eine Gesetzesänderung zu spät. «Die Kantonsratswahlen werden nach den geltenden Bestimmungen des Wahl- und Abstimmungsgesetzes durchgeführt», heisst es bei der Direktion des Innern. Richtig gerechnet wird also frühestens bei den Wahlen 2018.

 


[1] Claudio Kuster (2014): Kritik: Doppelproporz im Wahlgesetz Zug, S. 2 f.

Musterschüler und Sorgenkinder unter den kantonalen Wahlsystemen

9 Sitze – so viele muss nach Ansicht des Bundesgerichts ein Wahlkreis mindestens haben, damit darin faire (Proporz-)Wahlen stattfinden können. Bei dieser Anzahl benötigt eine Partei 10 Prozent der Stimmen, um einen Sitz auf sicher zu haben.[1] Je weniger Mandate zu vergeben sind, desto höher liegt diese Hürde. Steigt sie über 10 Prozent, ist gemäss Bundesgericht das Gebot der Rechtsgleichheit und der unverfälschten Stimmabgabe nicht mehr gewährleistet. Aus diesem Grund hat das Gericht bereits die Wahlsysteme mehrerer Kantone für bundesverfassungswidrig erklärt und verlangt, dass diese ihr Wahlrecht anpassen – entweder indem sie die Wahlkreise vergrössern oder indem sie eine wahlkreisübergreifende Sitzverteilung[2] ermöglichen.

Seit dem wegweisenden Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahre 2002 haben fünf Kantone auf direkten oder indirekten Druck aus Lausanne ihr Wahlrecht geändert: Zürich, Aargau und Schaffhausen haben das Pukelsheim-System eingeführt, Luzern hat einen Wahlkreisverband gebildet und Thurgau seine Wahlkreise vergrössert.

Die Liste dürfte sich in naher Zukunft noch verlängern. Denn nach wie vor dürften viele kantonale Wahlsysteme die Vorgaben des die Vorgaben des höherrangigen Rechts, sprich: der Bundesverfassung, nicht erfüllen, wie der Vergleich zeigt.

Die 26 kantonalen Wahlsysteme im Vergleich. Orange markiert sind jene Kantone, deren Wahlsysteme möglicherweise in Konflikt mit der Bundesverfassung stehen, Grün markiert sind die (reinen) Majorzkantone.

Die 26 kantonalen Wahlsysteme im Vergleich. Orange markiert sind jene Kantone, deren Wahlsysteme möglicherweise in Konflikt mit der Bundesverfassung stehen, Grün markiert sind die (reinen) Majorzkantone.

Tendenziell haben jene Kantone, die ihr Parlament ganz oder teilweise im Majorzverfahren besetzen, kleinere Wahlkreise. Am kleinsten sind sie im Kanton Graubünden – neben Appenzell-Innerrhoden der einzige, der ausschliesslich nach Majorz wählt – mit einer Durchschnittsgrösse von 3.08. Gleich dahinter folgen Uri und Appenzell-Ausserrhoden. Danach kommen Schwyz, Nidwalden und Zug – drei Kantone, in denen die Diskussion um das Wahlrecht gerade besonders aktuell ist.

Logischerweise sind die Wahlkreise umso grösser, je weniger es davon gibt. Die Extremfälle sind Genf und Tessin: Dort bildet jeweils der ganze Kanton einen einzigen Wahlkreis. Mit 100 Sitzen hat Genf denn auch den grössten Wahlkreis der Schweiz.

Tessin und Genf sind aber die grossen Ausnahmen. In den meisten Kantonen sind die Wahlkreise deutlich kleiner – und in vielen kleiner, als das Bundesgericht erlaubt: Von 26 Kantonen haben 18 mindestens einen Wahlkreis mit weniger als 9 Sitzen. In 9 Kantonen liegt sogar die durchschnittliche Wahlkreisgrösse unter dem Grenzwert.

Was bedeutet das nun für die künftige Entwicklung in den Kantonen? Zunächst gilt es zu differenzieren. Im Prinzip können wir folgende Gruppen von Kantonen unterscheiden:

  • In 8 Kantonen sind die Wahlkreise gross genug, sie stehen auf jeden Fall in Einklang mit der Bundesverfassung: Genf, Tessin, Thurgau, Glarus, Solothurn, Bern, Jura und St. Gallen.
  • 5 Kantone haben zwar vereinzelt Wahlkreise mit weniger als 9 Sitzen, haben aber eine wahlkreisübergreifende Zuteilung von Sitzen eingeführt, womit das natürliche Quorum tief genug ist: Luzern, Aargau, Basel-Land, Zürich und Schaffhausen. Auch diese Kantone haben vom Bundesgericht nichts (mehr) zu befürchten.
  • 2 Kantone, nämlich Graubünden und Appenzell-Innerrhoden, wählen ihr Parlament vollständig im Majorzsystem und sind damit von den Vorgaben des Bundesgerichts ausgenommen. Denn der Grenzwert für das natürliche Quorum von 10 Prozent bezieht sich ausschliesslich auf Proporzwahlen. Mit dem Majorzverfahren mussten sich die Richter in Lausanne bislang nicht spezifisch befassen. Ein weiterer Kanton – Appenzell-Ausserrhoden – wählt das Parlament zum grössten Teil im Majorzverfahren, hat aber auch noch einen Proporzwahlkreis (Herisau). Dieser ist mit 14 Sitzen allerdings gross genug.
  • Es bleiben somit 10 Kantone, deren Wahlrecht möglicherweise in Konflikt mit der Bundesverfassung steht (oder deren Wahlrecht vom Bundesgericht bereits für verfassungswidrig erklärt wurde): Neuenburg, Waadt, Freiburg, Wallis, Obwalden, Zug, Nidwalden, Basel-Stadt, Schwyz und Uri. Einige von ihnen, etwa Neuenburg oder Basel-Stadt, befinden sich in einer Grauzone, bei anderen ist der Konflikt ziemlich offensichtlich – etwa bei Schwyz und Nidwalden, deren Wahlsysteme bereits vom Bundesgericht für verwassungswidrig erklärt worden sind.

Die Grösse der Wahlkreise ist aber nicht das einzige Kriterium der Richter in Lausanne. Sie lassen auch bei Proporzwahlen kleinere Wahlkreise zu, wenn diese mit historischen, föderalistischen, kulturellen, sprachlichen, ethnischen oder religiösen Eigenheiten begründet werden können. Tatsächlich hatte das Bundesgericht 2004 bereits einmal eine Beschwerde gegen das Walliser Wahlrecht mit Verweis auf die historische Bedeutung der Bezirke, welche die Wahlkreise bilden, abgewiesen.[3]

Wie viele der betroffenen Kantone also tatsächlich ein Wahlsystem haben, das der Bundesverfassung widerspricht, kann nicht a priori gesagt werden.

Klar ist hingegen, dass bei allen Einschränkungen noch genug potenzielle Konflikte zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht bleiben. Der Vergleich der Kantone zeigt deutlich, dass die Diskussionen über die Wahlsysteme in den Kantonen noch einige Zeit anhalten dürften.


[1] Wissenschaftlich ausgedrückt beträgt das natürliche Quorum 10 Prozent.

[2] etwa durch Wahlkreisverbände oder das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren («doppelter Pukelsheim»)

[3] Eine weitere Beschwerde ist hängig.

Zuger Kantonsrat nach «Lausanne»: Kommt es nun zum Erdrutsch?

Wie in manchen Innerschweizer Kantonen wird derzeit auch in Zug über ein neues Wahlsystem gerungen. Vor wenigen Wochen noch wurde das Wahlverfahren des Regierungsrats verhältnismässig reibungslos von Proporz auf Majorz umgestellt. Bei der Bestellung der Legislative indessen gehen die Wogen ungleich höher. So wurde bereits 2010 gemäss langjähriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung auch das Zuger Wahlsystem verfassungswidrig erklärt.

Die Regierung schlug im Sommer 2012 dem Kantonsrat vor, er sei doch fortan nach dem doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren zu wählen. In Zürich, Aargau und Schaffhausen hat sich dieses bewährt und so trat die Legislative Anfangs Jahr auf das Geschäft ein. Parallel dazu braute sich jedoch im Nachbarkanton Schwyz – oder eher: in Bern? – ein Sturm der Empörung zusammen: Der Nationalrat versagte dem Urkanton die vollständige Gewährleistung seiner neuen Kantonsverfassung. Der Zankapfel auch da: Ein nicht ganz so proportionales Proporzsystem. Am Fusse der Mythen brach eine elektorale Welt zusammen. Hauptschuldig ist und bleibt «ein oberschlauer, gescheiter Professor aus Deutschland, der nicht einmal hier wohnt, uns mit mathematischen Berechnungen vorschreiben geht, wie wir die Verteilungen vorzunehmen haben». Im Kanton Zürich herrsche «heute ein grosses Durcheinander», ja «verseuchte Wahlen» – «so weit hat es dieser Pukelsheim gebracht»!

Die Welle der Entrüstung schwappte alsbald auf Zug über. Flugs wurde da ein Vorstoss (CVP) eingereicht, der die föderale Opposition via Standesinitiative «zur Wiederherstellung der Souveränität der Kantone bei Wahlfragen» zurück nach Bundesbern tragen sollte. In der 2. Lesung zur Zuger Wahlgesetzrevision im April überboten sich die Lokalpolitiker mit Anträgen, wie dem Augsburger Professor der Garaus zu machen sei: Mal wurde ein Mischsystem vorgeschlagen (FDP), welches bloss in den drei Städten Proporzwahlen vorsah, dann lieber ein Rückweisungsantrag (CVP) mit kantonsweiter Majorzwahl. Als besonders empfänglich erwies sich aber der kecke Vorschlag (CVP), doch gleich ein «Pukelsheim-Verbot» in die erhabene Kantonsverfassung zu placieren. Die zuständige Regierungsrätin warnte die bürgerlichen Parlamentarier vergeblich vor der drohenden Verfassungskrise. Doch die Gesetzesmacher waren nicht mehr zu halten, sie suchten geradezu die Konfrontation, die plebiszitäre Demarkation.

«Ausgeschlossen ist das doppelt-proportionale Zuteilungsverfahren» (und ebenso Wahlkreisverbände, doch diese Konstrukte taugen interessanterweise nie als Feindbild) sollten also die Zuger Stimmbürger am kommenden 22. September in ihre Verfassung schreiben. Den zwei einzigen bekannten Möglichkeiten, wie Kleinstwahlkreise mit bloss zwei, drei Sitzen elegant in ein kohärentes Wahlsystem eingebettet werden könnten, einen definitiven Riegel schieben? Die nächsten Kantonsratswahlen abermals mit dem geltenden Verfahren abhalten, damit das Bundesgericht nicht «bloss» das Prozedere, sonder gar die Wahlen an sich kassiert? Mehreren Parteien und Einzelpersonen wurde dies zu bunt, sie gelangten vor Monatsfirst erneut ans höchste Gericht.

Wenig überraschend stoppte gestern das Bundesgericht die anberaumte Abstimmungsvorlage, sie ist und bleibt verfassungswidrig. Für Aufsehen erregte höchstens noch, dass nunmehr vergessen geglaubte Artikel der Bundesverfassung zur Begründung herangezogen wurden: «Bund und Kantone unterstützen einander in der Erfüllung ihrer Aufgaben und arbeiten zusammen. Sie schulden einander Rücksicht und Beistand. Sie leisten einander Amts- und Rechtshilfe.» Als nächsthörere Eskalationsstufe schiene nur noch die Sezession.

Den Zugerinnen und Zugern wird nunmehr lediglich das angeblich so ungeniessbare Menü «Doppelproporz» serviert. Wäre der Kanton in seinem 661. Jahr überhaupt noch regierbar, würde jene Kröte geschluckt? Oder herrschte bald Anarchie? Diese Frage kann wenigstens annäherungsweise beantwortet werden. Denn wären die letzten Parlamentswahlen 2010 bereits nach dem zur Diskussion stehenden Zuteilungsverfahren abgehalten worden, so sähen die Sitzverschiebungen wie folgt aus:

Wahlen 2010 (Doppelproporz)
CVP FDP SVP Alterna-
tive/GPS
SP GLP Gemeinde total
Stadt Zug 3 5 4 4 2 1 19
Oberägeri 1 (-1) 1 1 1 (+1) 4
Unterägeri 2 2 1 1 6
Menzingen 2 1 3
Baar 4 3 4 1 2 1 15
Cham 3 2 2 1 2 10
Hünenberg 2 1 1 (-1) 1 (+1) 1 6
Steinhausen 2 2 1 1 6
Risch 1 1 (-1) 2 1 1 (+1) 6
Walchwil 1 1 1 3
Neuheim 1 1 2
Kanton total 22 19 18 10 8 3 80
Veränderung -1 -1 -1 +2 =0 +1

Tektonische Verschiebungen sehen anders aus. Das Erdrütschchen hätte lediglich drei Sitze anders zugeteilt: Die übervorteilten grösseren Parteien CVP, FDP und SVP hätten je einen Sitz an die kleineren Alternativen/Grünen beziehungsweise an die aufstrebenden Grünliberalen abgeben müssen. Die Beschwerdeführerin SP sässe gar auf der gleichen Sitzzahl wie sie im aktuellen Verfahren erhielt (weil sie heute mitunter von einer gemeinsamen Liste mit den Grünen profitiert).

Der Zuger Brei zu Pukelsheim wird also dereinst nicht mehr halb so heiss gegessen wie man heute vermuten könnte.

Welche Politiker sitzen in den Bankräten der Kantonalbanken?

Vor Kurzem waren die Kantonalbanken und ihre teilweise fragwürdige Corporate Governance Thema in diesem Blog. In vielen Kantonen legt das Parlament gleichzeitig den gesetzlichen Rahmen für die für die staatseigene Bank fest, beaufsichtigt sie und wählt ihr oberstes Führungsgremium, den Bankrat (in manchen Kantonen Verwaltungsrat genannt). Oft wird dieser mit Vertretern der Parteien besetzt, vielfach sind es selbst Parlamentarier. Die Fraktionen winken sich gegenseitig ihre Kandidaten durch, unabhängig davon, ob diese das nötige Fachwissen mitbringen. Die wichtigste Qualifikation ist das Parteibuch.

Doch wie viele Politiker sitzen eigentlich in den Bankräten der Kantonalbanken? Dank der Wirtschaftsdatenbank Infocube können wir diese Frage erstmals genau beantworten. Die Datenbank kombiniert die Angaben zu den Führungsgremien der Kantonalbanken gemäss Handelsregister mit den politischen Ämtern deren Mitglieder.

Kanton Name Behörde Partei
Aargau Roland Brogli Regierung CVP
Aargau Ruth Humbel Nationalrat CVP
Aargau Corina Eichenberger-Walther Nationalrat FDP
Appenzell-Innerrhoden Josef Koch-Signer Parlament parteilos
Appenzell-Innerrhoden Josef Manser Parlament parteilos
Appenzell-Innerrhoden Daniel Fässler Regierung CVP
Freiburg Markus Alexander Ith Parlament FDP
Freiburg Solange Berset Parlament SP
Freiburg Georges Camille Godel Regierung CVP
Basel-Land Adrian Ballmer-Held Regierung FDP
Basel-Land Claude Janiak Ständerat SP
Basel-Stadt Markus Lehmann Parlament CVP
Basel-Stadt Helmut Hersberger Parlament FDP
Basel-Stadt Andreas Sturm Parlament glp
Basel-Stadt Andreas Christoph Albrecht Parlament LDP
Basel-Stadt Sebastian Frehner Parlament SVP
Basel-Stadt Ernst Mutschler Parlament FDP
Basel-Stadt Karl Schweizer Parlament SVP
Glarus Peter Rufibach Parlament BDP
Glarus Rolf Widmer Regierung CVP
Luzern Christoph Lengwiler Parlament CVP
Nidwalden Erich Amstutz-Zwyssig Parlament CVP
Schaffhausen Florian Hotz Parlament JFSH
Schaffhausen Dino Tamagni Parlament SVP
Schaffhausen Ernst Anton Landolt Regierung SVP
Schaffhausen Markus Müller Parlament SVP
St. Gallen Martin Gehrer Regierung CVP
Tessin Fulvio Pelli Nationalrat FDP
Waadt Luc Recordon Ständerat Grüne
Zug Matthias Michel Regierung FDP
Zürich Hans Kaufmann Nationalrat SVP

Gemäss den Daten haben 31 Bankräte gleichzeitig ein höheres politisches Amt inne.[1] Die Auswertung zeigt aber auch, dass es sich dabei nicht nur um kantonale Parlamentarier handelt. In 8 Bankräten ist auch die Kantonsregierung mit einem Mitglied vertreten (in einigen Kantonen, etwa St. Gallen und Schaffhausen, ist das gesetzlich vorgeschrieben). Hinzu kommen 6 Bundesparlamentarier – sie befinden sich momentan in einem Interessenkonflikt, denn bei der anstehenden Abstimmung zum dringlichen Bundesgesetz über den US-Steuerstreit müssen sie eine Entscheidung treffen, die schwerwiegende Auswirkungen auf «ihre» Bank haben dürfte.

Auffallend – wenn auch wenig überraschend – ist, dass in jenen Kantonen, in denen das Parlament den Bankrat bestimmt, häufiger Parlamentarier zum Zug kommen. In Basel-Stadt, Appenzell-Innerrhoden, Schaffhausen und Freiburg wählt das Kantonsparlament sämtliche oder zumindest einen Grossteil der Mitglieder des Bankrats. In jenen Kantonen, in denen die Regierung den Bankrat bestimmt, kann dagegen kein eindeutiges Muster in der Zusammensetzung festgestellt werden.[2]

Bei den Parteizugehörigkeiten fällt auf, dass Mittepolitiker in den Bankräten besonders gut vertreten sind. An der Spitze liegt die CVP, gefolgt von der FDP. Untervertreten (gemessen an den Sitzanteilen in den kantonalen Parlamenten) sind dagegen die Sozialdemokraten und in geringerem Mass die SVP.

Diese Interpretationen sind insofern mit Vorsicht zu geniessen, als die Daten lediglich Bankräte erfassen, die aktuell ein politisches Amt innehaben. Parteimitglieder, die kein politisches Amt ausüben oder nur eines auf Gemeindeebene, tauchen nicht als Parteienvertreter auf, auch wenn sie das in der Praxis sind. In diese Kategorie fallen auch ehemalige Parlamentarier, die etwa im Bankrat der Zürcher Kantonalbank die Hälfte der Mitglieder ausmachen. Würde man diese Personen einbeziehen, würde die Zahl der Parteienvertreter in den Bankräten wohl deutlich höher liegen.

Besten Dank an Adrienne Fichter für das Zusammenstellen der Daten.


[1] Gesamthaft zählen die Bankräte der Kantonalbanken 184 Mitglieder.

[2] Wer bei welchen Kantonalbanken den Bankrat wählt, zeigt diese Tabelle.

Wenn sich Politiker als Banker versuchen

In der öffentlichen Wahrnehmung sind die Kantonalbanken die Musterschüler des Schweizer Finanzplatzes. Als grundsolide, kundennah und konservativ in der Anlagepolitik werden sie wahrgenommen und grenzen sich damit deutlich von den Grossbanken ab, die global agieren und gemeinhin als Horte gieriger Spekulanten gelten. «Too big to Fail»-Vorlagen, «Abzocker»- und «1 zu 12»-Initiativen, Leverage-Ratio- und Liquiditätsvorgaben, Finanzmarktaufsicht oder Steuerhinterziehung: Damit werden unsere 24 föderalen Finanzinstitute kaum assoziiert.

Dabei sind auch die Kantonalbanken keineswegs frei von Skandalen. Angesichts des relativ einfachen Auftrags[1], den sie zu erfüllen haben, und der Staatsgarantie, die die meisten von ihnen[2] geniessen, sorgen sie sogar auffallend häufig für negative Schlagzeilen. In mehreren Kantonen, etwa in Genf oder Bern, mussten in jüngerer Vergangenheit die Steuerzahler für Misswirtschaft oder verfehlte Strategien bezahlen, in Solothurn und Appenzell-Ausserrhoden brachen die Kantonalbanken sogar zusammen.

Könnte die Corporate Governance eine Rolle spielen? In den meisten Kantonen ist das Gremium, das den rechtlichen Rahmen für die Kantonalbanken vorgibt und die Oberaufsicht innehat, das gleiche Gremium, das das oberste Lenkungsorgan bestimmt, nämlich das kantonale Parlament. Die Legislative wählt den Bankrat beziehungsweise den Verwaltungsrat, wobei vielfach Parlamentarier zum Zug kommen. Wie bei Richterwahlen sind dabei die Parteistärken ausschlaggebend. Ob die Kandidaten unternehmerische Erfahrung, eine ökonomische Ausbildung oder finanzwirtschaftliches Fachwissen mitbringen, ist zweitrangig. Die wichtigste Qualifikation ist die Parteizugehörigkeit.

Wenn ein Gremium den gesetzlichen Rahmen einer Bank bestimmt, sie beaufsichtigt und gleichzeitig ihr oberstes Führungsorgan wählt, besteht eine Vermischung von Verantwortlichkeiten, die Gefahren birgt. Dennoch sträuben sich die Parlamente dagegen, von dem System abzurücken. Im Fall der Zürcher Kantonalbank liess sich das Parlament nicht einmal von einem Rüffel der Finanzmarktaufsicht (Finma) beeindrucken – der Kantonsrat hält an seiner Doppelrolle fest.

Der Widerstand ist irgendwie verständlich: Wenn man schon über eine Bank mit Staatsgarantie verfügen kann, wird man deren Führung kaum freiwillig abtreten. Zumal die Politiker für ihre Arbeit ein beachtliches Salär beziehen. So erhielten die 13 ZKB-Bankräte 2012 zusammen rund 1,8 Millionen Franken. Davon dürfte – via Mandatssteuern – ein nicht unwesentlicher Teil an die Parteien geflossen sein.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, wenn Politiker die Geschäfte einer Bank beaufsichtigen, deren regulatorischen Rahmenbedingungen sie selbst festlegen. Insbesondere mit Blick auf die Skandale der Vergangenheit.

Es ist wohl kein Zufall, dass nun die Diskussion über die Organisationsstruktur in einem Kanton wieder aufgekommen ist, dessen Kantonalbank zuletzt wenig erfreuliche Nachrichten lieferte: Die Basler Kantonalbank musste jüngst 50 Millionen Franken zurückstellen, weil sie auf eine betrügerische Anlagefirma hereingefallen war. Zudem steht sie wegen dem Vorwurf der Beihilfe zur Steuerhinterziehung im Visier der US-Steuerbehörde.

Nun unternimmt die Basel-Städtische Regierung den Versuch, eine bessere Trennung der Verantwortlichkeiten zu erreichen. Gemäss dem Entwurf des Kantonalbankengesetzes soll der Bankrat künftig vom Regierungsrat gewählt werden. Mitglieder des Parlaments sind ausdrücklich von dem Gremium ausgeschlossen.

In der Debatte, wer Bankräte wählen soll, geht es letztlich um die grundsätzliche Frage, wann ein Gremium, das im Auftrag des Staates steht, demokratisch rechenschaftspflichtig sein soll und wann nicht. Ein Bankrat, der vom Parlament gewählt wird, so kann argumentiert werden, repräsentiert die unterschiedlichen politischen Ansichten besser als ein Bankrat, der von der Regierung bestimmt wird. Allerdings ist fraglich, ob es zwingend eine solche politische Repräsentation braucht in einem Aufsichtsgremium, das nicht als politisches Organ konzipiert ist, sondern – im Gegenteil – lediglich die Vorgaben der Politik umsetzen soll. Andererseits führt die Wahl durch das Parlament nach parteipolitischen Kriterien zu einer Politisierung, die bei der Führung einer Bank nicht unbedingt wünschenswert ist. Nicht ohne Grund werden Bankrat und Präsidium der Schweizerischen Nationalbank vom Bundesrat gewählt. Es ist zu bezweifeln, ob die SNB unabhängiger agieren und bessere Entscheide treffen würde, wenn das Präsidium durch die Bundesversammlung anstatt durch die Regierung bestimmt würde.

Ein vernünftiger Grundsatz wäre wohl, dass Gremien, von denen politische Entscheide erwartet werden, demokratisch rechenschaftspflichtig sein sollen. Organe, die primär für die Umsetzung von Gesetzen in einem bestimmten Bereich zuständig sind, sollten hingegen durch die Regierung bestimmt werden oder durch ein anderes Gremium, das im Konsens entscheidet und dabei primär auf fachliche Kriterien Rücksicht nimmt.

Natürlich zählen derartige theoretische Überlegungen im politischen Alltag wenig. Es bleibt denn auch abzuwarten, ob die Basel-Städtische Kantonsregierung mit ihrem Vorschlag, dem Parlament die Kompetenz zur Wahl des Bankrats zu entziehen, Erfolg hat. Denn dieser Einschnitt muss letztlich vom Parlament selbst angenommen werden.


[1] Die Ursprünge der Kantonalbanken liegen in der Verknappung des Kreditangebots im 19. Jahrhundert. Historisch sind sie deshalb in erster Linie dazu da, den privaten und öffentlichen Kreditbedarf zu decken.

[2] 21 von 24 Kantonalbanken besitzen eine vollständige Staatsgarantie.

Schöne Worte und handfeste Interessen

Nach der Gründung des Bundesstaates im 19. Jahrhundert manipulierten die Freisinnigen in der Innerschweiz das Wahlrecht, um ihre Macht zu sichern. So teilten die Machthaber in Luzern die Wahlkreise für die Nationalratswahlen nach geologischen Kriterien ein, weil die katholisch-konservative Opposition dadurch weniger Stimmen holte.[1]

Tempi passati – heute ist die CVP längst die dominante politische Kraft in den Innerschweizer Kantonen. Als solche hat sie wenig Interesse an Änderungen bei den Wahlsystemen dieser Kantone, welche die grossen Parteien bevorzugen. Es verwundert daher wenig, dass sich die Partei mit Händen und Füssen gegen die drohenden Wahlrechtsreformen in mehreren Zentralschweizer Kantonen sträubt. Hintergrund ist die Rechtssprechungspraxis des Bundesgerichts, das die Wahlsysteme von Zug, Schwyz und Nidwalden für verfassungswidrig erklärt hat, weil die Wahlkreise für die Parlamentswahlen zu klein sind und kleinere Parteien dadurch benachteiligt werden. Zuletzt verweigerte der Nationalrat deshalb dem Kanton Schwyz die vollständige Gewährleistung der Kantonsverfassung.

Um ihr Wahlrecht in Einklang mit der Bundesverfassung zu bringen, müssen Zug, Schwyz und Nidwalden nun entweder die Wahlkreise (die bislang durch die Gemeinden gebildet werden) vergrössern, oder aber einen Mechanismus einführen, der eine wahlkreisübergreifende Verteilung der Sitze auf die Parteien ermöglicht.[2] Das würde allerdings die Dominanz der grossen Parteien eindämmen. Der Fraktionschef der Zuger CVP, Andreas Hausheer, will deshalb eine Standesinitiative auf den Weg bringen, um Bundesgericht und -parlament in Wahlrechtsfragen zu entmachten. Die Bundesverfassung müsse so geändert werden, dass die Kantone ihr Wahlsystem uneingeschränkt selbst festlegen können, fordert Hausheer laut der NZZ in einer Motion. Mit anderen Worten: Nicht die kantonalen Gesetze sollen sich an die Bundesverfassung halten, sondern umgekehrt.

Von was für einem Verständnis von Rechtsstaat das zeugt, soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Interessant sind allerdings einmal mehr die Argumente, die gegen eine Reform des Wahlrechts vorgebracht werden. Im Bericht ist von «föderalistischen Werten» die Rede, von «Einmischungen von aussen», die es zurückzudrängen gelte, und von der Tradition, die angeblich vorschreibt, dass auch Kleinstgemeinden eigene Wahlkreise bilden. Zufälligerweise werden diese grossen Worte stets von jenen ins Feld geführt, die am stärksten vom gegenwärtigen System profitieren und bei einer Wahlrechtsreform Sitzverluste zu befürchten hätten. Der Kanton Zug bildet keine Ausnahme, wie ein Blick das Ergebnis der letzten Kantonsratswahlen 2010 zeigt.

Partei Sitze Sitzanteil Wähleranteil Differenz Sitze Pukelsheim
CVP

23

28.8%

23.0%

5.7%

18 (-5)

FDP

20

25.0%

23.7%

1.3%

19 (-1)

SVP

19

23.8%

21.9%

1.8%

18 (-1)

Alternative

8

10.0%

13.4%

-3.4%

11 (+3)

SP

8

10.0%

12.3%

-2.3%

10 (+2)

GLP

2

2.5%

5.2%

-2.7%

4 (+2)

Total

80

Die CVP hat 23 Prozent Wähleranteil, hält aber fast 30 Prozent der Sitze. Ebenfalls überrepräsentiert, wenn auch nur leicht, sind die FDP und die SVP. Stark unterrepräsentiert sind dagegen die kleinen Parteien. Würden die Parlamentssitze über den gesamten Kanton zugeteilt, könnten diese Parteien ihre Sitzstärke deutlich steigern.

Die Tabelle zeigt auch, weshalb eine Änderung des Wahlsystems im Parlament einen schweren Stand hat: Die Parteien, die überrepräsentiert sind, haben zusammen eine solide Mehrheit – und können damit jede Änderung blockieren, die ihnen einen Machtverlust bringt.

Ohne den Christlichdemokraten unterstellen zu wollen, keine aufrichtigen Kämpfer für Föderalismus und kantonale Souveränität zu sein: ganz selbstlos ist ihr Kampf gegen Wahlrechtsreformen nicht. Als dominante Kraft im Kanton Zug und allgemein in der Innerschweiz drohen der CVP – wie auch anderen etablierten Parteien – deutliche Sitzverluste, wenn proportionalere Wahlsysteme eingeführt werden. Klar, dass man seine Privilegien nicht kampflos aufgibt.


[1] Damals wurde noch im Majorzverfahren gewählt. Quelle: Alfred Kölz (2004): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, zitiert in: Andrea Töndury (2013): Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen, in: Andrea Good und Bettina Platipodis: Direkte Demokratie. Herausfordungen zwischen Politik und Recht.

[2] Beispielsweise durch Wahlkreisverbunde oder das System des doppelten Pukelsheims.