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Kämpfer zwischen zwei Fronten

Logo_Serie_TrouvaillenDer vor 200 Jahren geborene Philipp Anton von Segesser wurde als konservativer Oppositionsführer im jungen Bundesstaat bekannt. Doch die Rolle des Luzerners war komplexer.

Publiziert in der «Zentralschweiz am Sonntag» am 16. April 2017.

Geschichte, heisst es, wird von den Siegern geschrieben. So gesehen, war die Aufgabe Philipp Anton von Segessers, des ersten wichtigen Oppositionsführers im schweizerischen Bundesstaat, keine sehr dankbare. Doch die Karriere des Luzerner Politikers zeigt, dass Verlierer manchmal eine mindestens so wichtige Rolle spielen für den weiteren Verlauf der Geschichte wie die Sieger.

Der vor 200 Jahren, am 5. April 1817, geborene Segesser war von seiner Herkunft aus einem alten Luzerner Patriziergeschlecht geprägt. Er studierte Rechtswissenschaften in Deutschland und hielt sich in Paris auf. Zurück in Luzern, trat er 1841 als stellvertretender Staatsschreiber in den Dienst der konservativen Regierung, die gerade an die Macht gekommen war. Deren Ziele unterstützte er zwar, nicht aber ihr Vorgehen. Die Berufung der Jesuiten an die höhere Lehranstalt in Luzern 1845 kritisierte er als «politischen Fehler», weil sie die Liberalen aus seiner Sicht unnötig provozierte. Die Provokation trug zur Verhärtung der Fronten im Konflikt zwischen Freisinnigen und Katholisch-Konservativen bei, die im Sonderbundskrieg 1847 gipfelte.

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Philipp Anton von Segesser.

Den Bürgerkrieg erlebte Segesser als Offizier mit. Der Sieg der Liberalen, der zur Gründung des Bundesstaats führte, war für den Luzerner eine schwere Niederlage. Nichtsdestotrotz schaffte er als einer der wenigen Katholisch-Konservativen den Sprung in den Nationalrat, der 1848 erstmals gewählt wurde. «Segesser war kein Freund des Bundesstaats, aber er sah es als sinnlos an, ihn zu bekämpfen», sagt die Luzerner Historikerin Heidi Bossard-Borner. Er verwendete fortan seine Energie darauf, innerhalb des neuen Staats die Interessen seines Kantons und der katholischen Minderheit zu vertreten und den Einfluss «Berns» so gering wie möglich zu halten.

Überzeugter Föderalist

In Erinnerung blieb Segesser als konservativer Oppositionsführer, als Gegenspieler des einflussreichen Zürcher Unternehmers und Nationalrats Alfred Escher. Dieser setzte sich für eine starke Rolle des Bundesstaats unter anderem beim Bau des Gotthardtunnels ein – ein Vorhaben, das der überzeugte Föderalist Segesser bis zum Schluss bekämpfte, weil er fürchtete, dass das Projekt das Gewicht des Bundes zu Lasten der Kantone stärken würde.

Um die Freisinnigen politisch zu schwächen, schreckten die Konservativen um Segesser auch vor antisemitischen Kampagnen nicht zurück. 1866 kamen zwei Verfassungsänderungen an die Urne, mit denen Juden bei der Religions- und Niederlassungsfreiheit den christlichen Schweizern gleichgestellt werden sollten. Während die Stimmberechtigten der Niederlassungsfreiheit mehrheitlich zustimmten, lehnten sie die Religionsfreiheit für die Juden knapp ab. In den katholischen Kantonen war die Ablehnung beider Vorlagen stärker als im Rest der Schweiz. Im Vorfeld der Abstimmung hatte Segesser gewarnt, die Juden verfolgten das Ziel der «Zerstörung der christlichen Gesellschaft», und forderte die Ablehnung der «Judenartikel». Der Zuger Historiker Josef Lang erklärt, dass Segesser im Kampf gegen die Judenemanzipation nicht zuletzt ein nützliches Mittel sah, um die Liberalen zu schädigen.

Scharfe Worte gegen die Liberalen

Obwohl Segesser an seiner katholisch-konservativen Haltung nie einen Zweifel liess, war er kein sturer Ideologe. Zwar schenkte er seinen Gegnern im Nationalrat nichts. Als bei der Revision der Bundesverfassung 1871 sein Antrag, die freie Ausübung des Glaubens auf die christlichen Konfessionen zu beschränken, auf freisinnigen Widerstand stiess, spottete er über seine Gegner und schlug ihnen vor, wenn sie sich des Christentums schämten, sollten sie das Kreuz im Wappen durch eine Wurst ersetzen.

So angriffslustig Segesser sein konnte: Persönlich pflegte er enge Freundschaften über das eigene Lager hinaus. Die konfrontative Haltung vieler Konservativer teilte er nicht. Ihm war bewusst, dass Freisinnige und Konservative einen Weg für ein friedliches Zusammenleben im Bundesstaat finden mussten. Mit dem Aufflammen des Kulturkampfs wurde dieser Weg jedoch immer steiniger. Das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) steuerte die katholische Kirche auf einen prononciert antiliberalen und anti-aufklärerischen Kurs. Segesser, im Nationalrat ein unermüdlicher Kämpfer für die katholische Sache, stand dieser Entwicklung kritisch gegenüber. Er war in kirchenrechtlichen Fragen eher liberal eingestellt. So übte er in seiner Schrift «Der Culturkampf» von 1875 deutliche Kritik am Ersten Vatikanischen Konzil und insbesondere am Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit. Damit machte er sich in katholischen Kreisen viele Feinde.

Sonderbundskrieg als Warnung

Segesser betätigte sich auch als Rechtshistoriker und schrieb unter anderem ein einflussreiches Werk über die Rechtsgeschichte des Kantons Luzern. Seine politische Aktivität beschränkte sich nicht nur auf den Nationalrat, dem er 40 Jahre lang angehörte. Er war daneben auch Grossrat und sass über 20 Jahre in der Luzerner Regierung. Dabei lebte er die Machtteilung, die er auf Bundesebene einforderte, auf kantonaler Ebene vor. Er setzte sich 1871 dafür ein, dass die Konservativen den Liberalen drei Sitze im Regierungsrat zugestanden. Segesser habe den Kulturkampf als grosse Gefahr gesehen, sagt Bossard-Borner: «Er befürchtete eine Wiederholung der Situation, die zum Sonderbundskrieg geführt hatte.»

Und er wusste, dass die Radikalisierung auf katholischer Seite jenen Freisinnigen in die Hände spielte, die die Katholiken ausgrenzen wollten – so geschehen mit den konfessionellen Ausnahmeartikeln (unter anderem Klosterverbot und Jesuitenverbot) in der revidierten Bundesverfassung von 1874.

Als moderater, pragmatisch denkender Konservativer kämpfte Segesser in den unruhigen Anfangszeiten des Bundesstaats an zwei Fronten: einerseits gegen die Erzkonservativen innerhalb der katholischen Konfession, andererseits gegen den wachsenden Einfluss des Bundesstaats und für die politische Integration der Katholiken in eben jenen Staat. Deren ersten Höhepunkt erlebte er jedoch nicht mehr: 1891, drei Jahre nach Segessers Tod, wurde mit seinem Luzerner Gesinnungsgenossen Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

Vom Gegner zur prägenden Figur des Bundesstaats

Logo_Serie_TrouvaillenViele assoziieren die historische Figur Josef Zemp primär mit dem Bruch der exekutiven Alleinherrschaft des liberal-radikalen Freisinns. Doch die Geschichte rund um Zemp hat weitaus mehr zu bieten.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher (Student Politikwissenschaften an der Universität Zürich).

Der Jurist und Politiker Josef Zemp (1834–1908) aus dem Entlebuch präsentiert eine einzigartige politische Karriere, die 1863 mit seiner Wahl in den Grossen Rat des Kantons Luzern ihren Anfang nahm. Ab 1871 war er Ständerat und prompt ein Jahr später schaffte er den Sprung in den Nationalrat (zu jenen Zeiten war der Umweg übers «Stöckli» in den Nationalrat im Gegensatz zu heute üblich). Dort amtierte er bis 1891, wobei er in der letzten Legislaturperiode den Nationalrat präsidierte. Im Jahre 1891 wurde er als erster Nicht-Freisinniger in einer spektakulären Wahl in den Bundesrat gewählt.[1]

Josef Zemp (1834 – 1908)

Josef Zemp (1834 – 1908)

Bereits früh in seiner politischen Karriere machte Zemp mit seinen institutionellen Revisionsbestrebungen auf sich aufmerksam. So machte er sich zum Beispiel 1882 für Anpassungen am Wahlsystem seines Heimatkantons Luzern stark: Er forderte für die Grossratswahlen einerseits die Einführung des Proporzwahlsystems, andererseits plädierte er für die Urnenwahl, die zu diesem Zeitpunkt mit wenigen Ausnahmen (Freiburg, Basel-Land und Tessin) in allen anderen Kantonen üblich war.[2]

Zemp, der persistente Motionär

Der Grosse Rat lehnte beide Vorschläge auf Antrag der Kantonsregierung mit der Begründung ab, dass erstens das Urnensystem das Missbrauchsrisiko erhöhe (Stimmenkauf und Betrug). Zweitens werde mit dem Urnensystem versucht, den Begriff der Gemeinde aufzulösen und so das gemeinschaftliche Moment beim Wahlverfahren zu unterminieren.[3]

Weder Zemp noch der damalige Bundesrat konnten diesen Begründungen beipflichten, weshalb der Bundesrat im darauffolgenden Jahr auf einen Gesetzesentwurf hin drang, das Urnensystem den Kantonen aufzudiktieren.[4]

Nur zwei Jahre später, 1884, reichte Josef Zemp mit zwei seiner katholisch-konservativen Ratskollegen, dem St. Galler Johann Joseph Keel und dem Tessiner Martino Pedrazzini , eine Motion zur Revision der Bundesverfassung ein, die bis weit über das katholisch-konservative Lager hinaus hohe Beachtung fand.[5] Die Motion bestand aus einem fünfteiligen Paket, welches in den damaligen Medien als «Revisionsbombe» persifliert wurde.

Unter anderem forderten die drei Motionäre die Revision der Wahlgrundlagen basierend auf dem Artikel 73 der Bundesverfassung 1874[6]. Sie schlugen vor, den Artikel dahin zu ergänzen, dass pro innerkantonalem Wahlkreis ein bis höchstens drei Vertreter zu wählen seien. Zudem forderten sie eine akkuratere Umsetzung des Grundsatzes der proportionalen Vertretung – mit anderen Worten: das Proporzwahlsystem.[7] Obwohl die Vorschläge damals keine parlamentarischen Mehrheiten fanden, begründeten sie die ideelle Anfangsphase eines auf Konsens angelegten politischen Systems.

Zemp, der konziliante Pragmatiker

Die Reformbestrebungen Zemps et al. sind vor allem vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund interessant. Der Kulturkampf zwischen den zentralistischen und laizistischen Radikal-Liberalen einerseits und den stark föderalistischen Katholisch-Konservativen andererseits schwelte nach der Beilegung des Sonderbundskriegs im Jahre 1847 noch lange weiter. Mit dem durch die Totalrevision der Bundesverfassung 1874 implementierten fakultativen Referendum, hatten die Katholisch-Konservativen fortan ein probates Mittel, der freisinnigen Übermacht Paroli zu bieten.

Die Katholisch-Konservativen realisierten, dass sie mit dem Referendum eine systematische Blockierung der Bundesgesetzgebung herbeiführen können und kippten so auch in den sogenannten Referendumsstürmen von 1874 bis etwa 1884 über ein Dutzend Vorlagen.[8] Insofern sind Zemps Reformvorstösse auch als eine Abkehr von der systematischen Opposition (Stichwort Deblockierung) in Form einer institutionellen Kompromissforderung und als einen Schritt in die konsensdemokratische Verhandlungskultur zu verstehen.

Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass man die spätere Wahl des katholisch-konservativen Josef Zemp in den Bundesrat nicht als eine Ursache des Annäherungskurses zwischen den beiden rivalisierenden Parteien verstehen sollte, sondern als als eine Wirkung eines umfassenderen Annäherungsprozesses, der bereits einige Jahre vor der Wahl Zemps in den Bundesrat seine Anfänge nahm.[9]

Von besonderer Bedeutung ist auch die Einsicht von Zemp, dass «die fehlende Möglichkeit der Partialrevision geradezu einem Zwang gleichkomme, auch für die Verwirklichung von Einzelpostulaten den mühsamen Weg der Totalrevision in Anspruch nehmen [zu müssen], also den Ausnahmefall zum Regelfall zu machen.»[10] Dieser Gedanke fand seine Vollendung bekanntlich in der Einführung der Volksinitiative auf Partialrevision der Bundesverfassung im Jahre 1891.

Zemp als Begründer des staatlichen Bahnwesens

Eine nicht weniger weitblickende Einsicht Zemps war, dass das Referendum eine minderheiten-begünstigende Wirkung hatte, was ihn und seine Parteikollegen dazu anspornte, das Fakultativum in ein Obligatorium umzuwandeln, um ihm seine ad hoc anwendbare Wirkung zu nehmen. Zudem forderte Zemp, dass das Obligatorium auf Staatsverträge ausgeweitet wird und dass der Anwendungsbereich der Dringlichkeitsklausel normiert wird.[11] Diese Vorschläge fanden ihre Anwendung in der Einführung des obligatorischen beziehungsweise fakultativen Staatsvertragsreferendums von 1921 und einer klaren Definition des Anwendungsbereiches der Dringlichkeitsklausel (auch als Folge deren extensiven Missbrauchs) in der Einführung des resolutiven Referendums von 1949.

Von den institutionellen Reformbestrebungen abgesehen, war Zemp auch als Bundesrat eine treibende Kraft. Von seinem zurückgetretenen freisinnigen Vorgänger Emil Welti erbte er die Leitung des Post- und Eisenbahndepartements. Obwohl oder gerade weil er ein notorischer Gegner der Eisenbahnverstaatlichung war, war es ein ausgesprochen gewiefter Schachzug des Bundesratskollegiums, ihm genau dieses Departement zu übertragen.

So setzte sich Zemp fortan für den Rückkauf der Eisenbahnen ein, der schliesslich 1898 in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Die Annahme dieser Vorlage bildete den Ausgangspunkt einer längeren Kaskade von Verstaatlichungsprozessen, was schliesslich den Weg für die Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen frei machte. Durch dieses politische Vermächtnis erlangte Zemp grosse Popularität, wenn er dafür parteiintern auch einiges an Kritik einstecken musste.[12]

Dies war nur ein bruchteilhafter Ausschnitt aus der aussergewöhnlichen Geschichte von und rund um Josef Zemp, der das Reformpotenzial auf den verschiedensten Ebenen des politischen Systems früh erkannt hatte und mit imposanter Beharrlichkeit den politischen Diskurs des damals noch jungen schweizerischen Bundesstaates mitprägte.

Dieser Beitrag ist der siebte Teil der Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

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[1] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: Zemp, Josef [Stand: 24.12.2014].

[2] Die Kantone Luzern, Freiburg, Basel-Land und Tessin kannten zu diesem Zeitpunkt noch die öffentliche Verlesung und Zählung der Stimmzettel, vgl. Erich Gruner (1978a): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848 – 1919. Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe, Teil 1, Bern, S. 140.

[3] Vgl. ebd., S. 140.

[4] Vgl. ebd., S. 140 f.

[5] Vgl. Ruedi Lustenberger, Beiträge des Katholizismus zur modernen Schweiz. Wissenschaftliche Konferenz. Schwyz, 17. Oktober 2014, Grusswort [Stand: 24.12.2014].

[6] Art. 73 BV 1874: «1 Die Wahlen in den Nationalrat sind direkte. Sie finden nach dem Grundsatze der Proportionalität statt, wobei jeder Kanton und jeder Halbkanton einen Wahlkreis bildet. 2 Die Bundesgesetzgebung trifft über die Ausführung dieses Grundsatzes die näheren Bestimmungen.»

[7] Vgl. Gruner 1978a: S. 357 f.

[8] Vgl. NZZ, Ein Anfang der Konkordanz, 08.12.2008 [Stand: 24.12.2014].

[9] Vgl. Christan Bolliger, Regula Zürcher (2004): Deblockierung durch Kooptation? Eine Fallstudie zur Aufnahme der Katholisch-Konservativen in die schweizerische Landesregierung 1891, Swiss Political Science Review 10 (4): S. 59–92.

[10] Gruner (1978b): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848 – 1919. Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe, Teil 2, Bern, S. 705.

[11] Vgl. ebd., S. 705.

[12] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: Zemp, Josef [Stand: 24.12.2014].

Wie das Tessin zum Schweizer Proporzpionier wurde

Logo_Serie_TrouvaillenImmer wieder war das Tessin im 19. Jahrhundert Schauplatz hitziger Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen. Den Frieden brachten schliesslich zwei Neuerungen, die den Kanton zum Vorbild für die ganze Schweiz machen sollten.

In keinem anderen Kanton war im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen derart heftig wie im Tessin. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war der Putsch von 1890, der den Kanton an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Am Ursprung der blutigen Ereignisse stand das Wahlrecht – dieses sollte sich zugleich als der Schlüssel zur Befriedung des Konflikts herausstellen.

1830 nahm das Tessin ein erstes Mal eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein, als es als erster Kanton eine liberale Regenerationsverfassung in Kraft setzte. Diese basierte auf den Ideen der französischen Revolution und proklamierte Freiheit, Gleichheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Gegen diese Grundsätze formierte sich bald Widerstand kirchentreuer Konservativer.

Die beiden politischen Blöcke lieferten sich in der Folge einen erbitterten Streit um die Macht, bei dem beide Seiten wenig zimperlich vorgingen. So enteignete die radikale Regierung 1848 – als infolge der Gründung des Bundesstaats die Zolleinnahmen wegfielen – kurzerhand die Klöster, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. 1855 ging sie noch weiter, als sie den verhassten Klerus vom Wahlrecht ausschloss, ein klarer Widerspruch zur Bundesverfassung.

Das geltende Wahlsystem verstärkte die Polarisierung. Gewählt wurde das Parlament – wie damals üblich – im Majorzsystem, und zwar in 38 Wahlkreisen mit je 3 Sitzen. Das Mehrheitssystem hatte den bekannten Effekt, dass kleine Unterschiede an erhaltenen Stimmen die Kräfteverhältnisse im Kanton gänzlich umkehren konnten. Umso erbitterter kämpften die beiden Parteien um die Macht, weil der Mehrheit im Parlament alles, der Minderheit nichts zukam. Ein italienischer Besucher beschrieb die politische Kultur so: «Bei jedem Machtwechsel im Kanton Tessin unterdrückt die Siegerpartei moralisch alle Anhänger der Besiegten und besetzt alle Ämter, auch die geringsten, mit den eigenen Parteigängern.»[1]

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1875 nahmen die Spannungen weiter zu. Die unterlegenen Radikalen reichten beim Bundesrat Rekurs gegen die Grossratswahlen ein mit der Begründung, durch das Wahlsystem benachteiligt zu werden. Tatsächlich verletzte dieses den Grundsatz der politischen Gleichheit in grober Weise, weil die einzelnen Wahlkreise zwar unterschiedlich grosse Bevölkerungen zählten, trotzdem aber alle Anrecht auf genau drei Sitze hatten.[2] Bevorteilt wurden vor allem kleine Kreise in den Tälern, wo die Konservativen besonders stark waren.[3]

Auch der Bundesrat sah die Verfassung durch das Tessiner Wahlsystem verletzt, sah sich aber nicht dafür zuständig und überwies die Angelegenheit an die Bundesversammlung, das den fraglichen Artikel in der Tessiner Verfassung schliesslich ausser Kraft setzte.

Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen Wahlsystems verschärfte den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter. 1876 kam es in Stabio zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit mehreren Todesopfern. Daraufhin intervenierte der Bundesrat und sendete zum ersten Mal einen Kommissär ins Tessin. Unter seiner Vermittlung einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die Wahlen von 1879 um zwei Jahre vorzuverschieben und unter einem neuen Wahlsystem durchzuführen, das die Sitze nach Massgabe der Bevölkerung auf die Wahlkreise verteilte.

Vom Regen in die Traufe

Die Konservativen gewannen die Wahlen erneut und machten sich sogleich daran, ihre Macht zu sichern. Mit der Mehrheit im Grossen Rat konnten sie die Wahlkreise nach Belieben einteilen und griffen dabei zur mehrfach bewährten Methode des «Gerrymandering». So teilte sie dem Wahlkreis Gambarogno, der bis dahin zuverlässig liberal gewählt hatte, die beiden konservativen Gemeinden Gordola und Cugnasco zu, woraus sich ein Wahlkreis mit vier Sitzen ergab, die fortan alle an die Konservativen fielen. Angesichts solcher Manipulationen[4] bezeichnete der Jurist Albert Schneider in einem Bericht die Wahlgeografie im Kanton Tessin als «artifiziell und monstruös».[5] Hinzu kam, dass für die Berechnung der Sitzzahlen auch Bürger gezählt wurden, die längst nicht mehr in der Gemeinde wohnten. Das gab den mehrheitlich konservativen Gemeinden in den Tälern, deren Einwohner vielfach nach Italien emigriert waren, zusätzliches Gewicht.

Für die Liberalen war die Änderung des «ungerechten» Wahlsystems somit ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Exemplarisch zeigte sich dies bei den Wahlen 1889, bei denen die Konservativen mit 51 Prozent der Stimmen 69 Prozent der Sitze im Grossen Rat holten.[6] Die radikale Zeitung «Il Dovere» (die heutige «La Regione») kommentierte sarkastisch: «Es lebe die Gleichberechtigung!»

Das Wahlresultat bestätigte die Liberalen in ihrer Befürchtung, trotz ausgeglichener Kräfteverhältnisse auf lange Frist von der Macht ausgeschlossen zu bleiben. Ihre Empörung entlud sich zunächst in der rekordverdächtigen Zahl von 726 Rekursen, die gegen das Ergebnis beim Bundesrat eingingen. Bald schon griffen sie allerdings zu drastischeren Mitteln: Am 11. September 1890 stürmte eine Gruppe radikaler Aufständischer das Regierungsgebäude in Bellinzona und verhaftete die anwesenden Regierungsmitglieder. Im Getümmel wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss getötet. Die Revolutionäre riefen eine provisorische Regierung aus und setzten das Parlament ab.

Oberst Arnold Künzli

Oberst Arnold Künzli.

Der Bundesrat reagierte sofort und beschloss eine Bundesintervention. Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone – die gerade einen WK in der Nähe leisteten – unter der Führung von Nationalrat und Oberst Arnold Künzli ins Tessin. Er hatte den Auftrag, die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Am 12. September trafen Künzlis Truppen mit einem Sonderzug in Bellinzona ein. Er ermahnte das Volk zunächst in einer Proklamation zur Ruhe und machte sich dann daran, die verhafteten Staatsräte wieder auf freien Fuss zu setzen.

Dann allerdings kam es zu einem Missverständnis, das beinahe folgenschwer gewesen wäre. Der Bundesrat hatte Künzli nämlich in einer ergänzenden Weisung am 13. September beauftragt, ihm «zu berichten, in welchem Momente die gesprengte Regierung im Stande und gewillt sei, ihre Funktionen wieder auszuüben». Künzli leitete daraus die Aufforderung ab, die konservative Regierung wieder einzusetzen. Das, so seine Befürchtung, würde jedoch neue Unruhen und Blutvergiessen zur Folge haben. Künzli telegrafierte nach Bern, der Auftrag erscheine ihm «so folgenschwer, ernst und bedenklich für Zukunft des Kantons und der Eidgenossenschaft, dass ich meinen Namen mit dieser Massregel nicht verknüpfen kann». Der Oberst verweigerte den Befehl und ersuchte den Bundesrat um Entlassung als Kommissär.

Die Regierung antwortete umgehend und erklärte: «Wir haben Sie nicht beauftragt, die alte Regierung wieder einzusetzen, sondern über die Frage zu berichten, in welchem Moment dieselbe im Stande und Willens sei, die Staatsgeschäfte wieder an die Hand zu nehmen.» Der Bundesrat lehnte das Demissionsgesuch ab, nicht ohne aber Künzli zu ermuntern: «Wir verkennen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe nicht, appellieren aber an Ihren Patriotismus.»

In der Folge setzte Künzli die provisorische Regierung ab und setzte die von den Liberalen verlangte Abstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Nachdem das Volk dieser am 5. Oktober zugestimmt hatte, ging es nun darum, ein politisches System zu finden, das dem Kanton endlich friedliche und stabile Verhältnisse bringen würde. Oberst Künzli sollte recht behalten mit seinen Worten, die er bereits kurz nach seiner Ankunft im Tessin geäussert hatte: «Frieden und bessere Zustände können nur wiederkehren, wenn jede Partei die Vertretung in den administrativen und richterlichen Behörden erhält, die ihr nach ihrer Stärke gebührt, und wenn die vernünftigen Theile beider Parteien auf dieser Grundlage zu einer Verständigung gelangen.»

«Zu kompliziert»

Auf Anregung von Künzli organisierte der Bundesrat eine Reihe von Versöhnungskonferenzen zwischen den zerstrittenen Fraktionen und versuchte einen Kompromiss zwischen ihnen zu vermitteln. Zunächst verlangte die bundesrätliche Delegation die Wahl einer «gemischten Regierung», also eines Staatsrats, der aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt ist.

Was das Wahlsystem angeht, verzichtete der Bundesrat zunächst auf eine konkrete Empfehlung und sprach sich stattdessen grundsätzlich für ein System aus, das «die gerechte Vertretung der Parteien» gewährleisten würde. Die Einführung des Proporzsystems wurde im Grossen Rat diskutiert, allerdings schreckte man davor zurück, da die Anwendung dieses Systems «zu kompliziert» sei und «unser Volk mit der Idee derselben noch zu wenig vertraut» sei, wie es der gemässigt konservative Abgeordnete Agostino Soldati ausdrückte.[7] Die Konservativen schlugen stattdessen das System der «limitierten Stimmabgabe» vor.[8]

Allerdings kam eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene statistische Untersuchung zum Schluss, dass dieses System die konservative Dominanz nur leicht vermindern würde. Weil die Liberalen zudem die limitierte Stimmabgabe ablehnten und damit eine neue Staatskrise drohte, ging der Bundesrat schliesslich in die Offensive und sprach sich offen für das «System der Proportionalvertretung» aus.

Unter dem Druck der Landesregierung stimmten die verfeindeten Parteien den bundesrätlichen Vorschlägen schliesslich zu. Am 5. Dezember 1890 verabschiedete der Grosse Rat ein Gesetz zur Wahl des Verfassungsrats nach dem Proporzsystem.[9] Gleichzeitig wählte er zwei Liberale in den fünfköpfigen Staatsrat (der damals noch nicht vom Volk gewählt wurde). Zum ersten Mal wurde das Tessin im Konkordanzsystem regiert.

Die erstmalige Anwendung des Proporzsystems in der Schweiz verlief allerdings nicht wie gewünscht: Denn die Konservativen versuchten das neue System zu ihrem Vorteil auszunutzen, indem sie in einigen Wahlkreisen mehrere Listen aufstellten in der Hoffnung, damit mehr Sitze zu gewinnen. Die Liberalen waren darüber derart erbost, dass sie die Wahl am 11. Januar kurzerhand boykottierten. Als Folge davon bestand der Verfassungsrat vollständig aus Konservativen. Immerhin führte dieser Verfassungsrat das Proporzsystem auch für die Wahlen des Grossen Rats ein und sorgte damit für eine fairere Verteilung der Parlamentssitze.

Die Debatte über das Wahlsystem war damit im Tessin zwar noch lange nicht abgeschlossen.[10] Fortan wurde diese Debatte aber im Rahmen eines geordneten demokratischen Prozesses ausgetragen. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten der Vergangenheit an.

Vorbild für den Bund

Die Ironie der Geschichte ist, dass der freisinnige Bundesrat den Kanton Tessin zu zwei Neuerungen zwang, denen er sich auf Bundesebene vehement widersetzte: die Proporzwahl und die Konkordanz. Während er die Tessiner Konservativen dazu drängte, den Liberalen eine angemessene Vertretung in der Regierung zuzugestehen, verweigerte er genau das den Konservativen im Bundesstaat. Immerhin wurde 1891 mit Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Auch von einer «gerechten Vertretung der Parteien» im Parlament, wie er sie im Tessin forderte, wollte der Bundesrat im Bezug auf den Nationalrat nichts wissen und sträubte sich bis 1918 dagegen, als das Volk die Proporzwahl der grossen Kammer annahm.

Das doppelte Spiel der freisinnigen Mehrheit in Bundesbern sorgte schon damals für kritische Töne. So klagte der Zürcher Konservative Georg von Wyss 1890 in einem Brief: «Welch trauriges Spektakel, dass die [eidgenössischen] Räte (…) die Tessiner Revolutionäre schützen und für sie Konzessionen fordern, die sie gleichzeitig all jenen verweigern, welche nicht gleich denken wie sie.»[11]

Schliesslich ist noch eine weitere Neuerung im Kanton Tessin aufschlussreich: 1892 führte der Südkanton nicht nur die Volkswahl der Regierung (nach dem Proporzverfahren) ein, sondern auch die Möglichkeit, dieselbe mittels Volksabstimmung abzuberufen. Diese Reform wurde explizit damit begründet, dass dadurch gewaltsame Umstürze verhindert werden könnten.

Dieser Beitrag ist der sechste Teil der (unterdessen endlosen) Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

 


[1] Dossi, Carlo (1964): Note azzurre, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[2] Gemäss dem Bundesrat hatte etwa eine Stimme im Kreis Levizzara fast sechsmal mehr Gewicht als eine in Lugano. Quelle: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[3] Die Liberalen, die sich nun darüber beklagten, hatten es aber offenbar nicht für nötig befunden, während ihrer über 30 Jahre an der Macht das Wahlsystem anzupassen.

[4] Für weitere Beispiele siehe Ghiringhelli, Andrea (1995): Il cittadino e il voto.

[5] Schneider, Albert (1889): Rapporto sui ricorsi concernenti le elezioni al Gran Consiglio presentato all’alto Consiglio Federale, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[6] Die Konservativen erhielten 12’653 Stimmen und 77 Sitze, die Liberalen 12’018 Stimmen und 35 Sitze. Quelle: Ghiringhelli (1995).

[7] Man beachte die Parallelen zur Diskussion, die später auf Bundesebene geführt wurde.

[8] Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen (wie sie damals in der Schweiz üblich war) mit der Besonderheit, dass die Wähler weniger Stimmen zur Verfügung haben, als Sitze zu vergeben sind. Das gibt Minderheitsparteien bessere Chancen auf eine Vertretung.

[9] Für die Aufteilung der Sitze auf die Parteien kam das Bruchzahlverfahren (Hare-Niemeyer-Verfahren) zur Anwendung und nicht das Hagenbach-Bischoff-Verfahren, das sich später in den meisten Kantonen und auf Bundesebene durchsetzen sollte. Das Tessin ist heute neben Waadt der einzige Kanton, der sein Parlament nach dem Bruchzahl-Verfahren wählt.

[10] Insbesondere wurde die Zahl der Wahlkreise von 17 kontinuierlich verkleinert, bis 1920 ein Einheitswahlkreis für den ganzen Kanton eingeführt wurde.

[11] Brief an Ernest Naville, zitiert in: Wisler, Dominique (2008): La démocratie genevoise.

Das lange Warten der jurassischen Katholiken

Logo_Serie_TrouvaillenWährend fast vierzig Jahren verwehrten die Freisinnigen im 19. Jahrhundert den jurassischen Katholiken eine Vertretung im Nationalrat. Der Konflikt darüber löste auf Bundesebene beinahe eine Staatskrise aus.

Vor Kurzem ging es an dieser Stelle darum, wie die Freisinnigen im 19. Jahrhundert die Wahlkreise für die Nationalratswahlen im Kanton Luzern nach Gesteinsformen einteilten, um sich möglichst viele Sitze zu sichern. Das ist allerdings nicht das einzige Beispiel, wo sich die Liberalen des so genannten «Gerrymandering» bedienten. Auch in anderen Kantonen wie Aargau, Bern, Freiburg oder St. Gallen warfen die Konservativen den Freisinnigen vor, die Wahlkreise zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Besonders interessant ist das Beispiel des Kantons Bern, weil hier zum parteipolitischen Konflikt auch noch ein (sprach-)regionaler Konflikt hinzukam.[1]

Bern war zur Gründungszeit des Bundesstaats nicht nur als Sitz der Bundesbehörden von Bedeutung. Es war damals auch der grösste Kanton und stellte mit Abstand die meisten Nationalräte, nämlich 20 von insgesamt 111. Anders als Luzern war der Kanton mehrheitlich protestantisch, somit hatten die Liberalen hier keine Konkurrenz durch die Katholisch-Konservativen zu befürchten (mit einer Ausnahme, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen werden). Es gab aber eine starke protestantisch-konservative Fraktion, die sich bei den Grossratswahlen 1850 sogar die Regierungsmacht sicherte.

Der französischsprachige Jura war zweigeteilt: Der protestantische Süden wählte mehrheitlich liberal, der katholische Norden mehrheitlich konservativ. Gemäss der Volkszählung 1850 hatte der katholische Teil der Region rund 42’000 Einwohner und demnach Anrecht auf zwei Vertreter im Nationalrat.[2] Die Liberalen hatten allerdings nicht die Absicht, den Katholisch-Konservativen diese zwei Sitze zu überlassen. Als das eidgenössische Parlament 1850 zum ersten Mal die Wahlkreise für die Nationalratswahlen einteilte, fasste es deshalb den protestantischen und den katholischen Teil des Juras (zusammen mit dem Laufental) zu einem Viererwahlkreis zusammen.[3] Die Idee dahinter war, dass der liberale Südjura zusammen mit dem katholischen, aber mehrheitlich liberal wählenden Laufental den konservativen Nordjura überstimmen würde, wodurch die Katholisch-Konservativen im Jura ohne Nationalrat bleiben würden.

Bei den Wahlen 1851 ging dieser Plan zunächst gründlich daneben: Die Katholisch-Konservativen gewannen – wohl beflügelt durch den konservativen Sieg bei den Berner Grossratswahlen im Jahr zuvor – mit knappem Mehr alle vier Sitze des Wahlkreises. Der Erfolg war allerdings von kurzer Dauer. Drei Jahre strengten sich die Liberalen bei der Mobilisierung ihrer Wähler etwas mehr an; alle katholisch-konservativen Nationalräte aus dem Jura wurden wieder abgewählt. Von da an gewannen die Freisinnigen konstant jede Nationalratswahl in dem Wahlkreis. Die katholischen Jurassier blieben während Jahrzehnten ohne Vertretung im eidgenössischen Parlament.

Natürlich hätten die Freisinnigen die parteipolitischen Absichten hinter der Wahlkreiseinteilung niemals offen eingestanden. Alfred Escher, der Präsident der zuständigen Nationalratskommission, offenbarte jedoch in einem privaten Brief zumindest indirekt derartige Überlegungen ein, als er schrieb: «Es wäre doch mehr als gutmütig gewesen, die Bildung der bernischen Wahlkreise, aus denen 23 Nationalräte hervorgehen sollten, nicht von Bundes wegen festzulegen, sondern dem konservativen Grossen Rat von Bern zu überlassen!»[4]

Der Widerstand der jurassischen Katholiken gegen die Benachteiligung wuchs aber an, und mit dem Erstarken der Katholisch-Konservativen auf Bundesebene nahm der Druck zu, den Wahlkreis Jura aufzuteilen, um den Katholiken eine eigene Vertretung zu ermöglichen.

Als im Hinblick auf die Nationalratswahlen 1890 wieder einmal die Wahlkreise festgelegt werden mussten, drängte die Opposition auf einen eigenen Wahlkreis Nordjura. In der zuständigen Kommission des Nationalrats schlug die konservative Minderheit zunächst ein gänzlich neues System der Einteilung vor, nach dem in der ganzen Schweiz jeder Wahlkreis maximal drei Sitze haben sollte, unter anderem auch jener im katholischen Jura. Als sich dafür im Nationalrat keine Mehrheit ergab, liessen die Katholisch-Konservativen die Idee wieder fallen. Im Ständerat – wo sie fast die Hälfte der Sitze hatten – fand sich trotzdem eine Mehrheit für einen eigenen Wahlkreis Nordjura. Dafür hatte der Nationalrat jedoch weiter kein Gehör; er lehnte den Vorschlag der kleinen Kammer im Dezember 1889 mit 70 zu 52 Stimmen ab.

Damit stand nun das ganze Gesetz auf der Kippe. Denn im Herbst 1890 waren Wahlen, und sollten sich die Räte nicht bald einigen, drohte der Schweiz eine Wahl ohne gültiges Wahlrecht. «Jetzt stehen wir vor einer Zwangslage», konstatierte der Präsident der ständerätlichen Kommission, der konservative Obwaldner Theodor Wirz, und machte dabei keinen Hehl aus seinem Ärger über den freisinnig dominierten Nationalrat, der aus seiner Sicht für die verfahrene Situation verantwortlich war. Sollte die Jura-Frage die Schweiz in eine Staatskrise stürzen?

Der Bundesrat versuchte zu vermitteln und schlug im März 1890 einen alternativen Teilungsplan vor. Auch diesen lehnte der Nationalrat ab. Kommissionspräsident Brunner warnte in der Diskussion davor, damit würde «ein schlimmes Muster von Wahlkreisgeometrie» statuiert – eine geradezu zynische Begründung angesichts der Unverfrorenheit, mit der die Freisinnigen seit 1848 Wahlkreisgeometrie betrieben.

Schliesslich willigte die grosse Kammer doch noch in einen Kompromiss ein: Dieser sah vor, nicht alle drei Bezirke des nördlichen Juras zu einem Wahlkreis zusammenzufassen, sondern nur Porrentruy und Delémont (sowie das Laufental). Dadurch hatte der katholische Wahlkreis nur zwei statt drei Sitze.

Immerhin: Die Gefahr einer Staatskrise war gebannt. Im Juni wurde das revidierte Gesetz von den Räten verabschiedet, im Oktober fanden die Wahlen statt – und brachten dem katholischen Jura zum ersten Mal seit fast vierzig Jahren wieder einen Verteter im Nationalrat. Fortan sollten die Katholisch-Konservativen bis zur Einführung des Proporzsystems 1919 immer ein bis zwei Nationalräte stellen.[5]

Ein Wahlkreis, der den ganzen katholischen Jura umfasste, wurde aber erst 1979 Wirklichkeit, als der nördliche Teil des Juras zu einem eigenen Kanton wurde und seither bei den Nationalratswahlen einen eigenen Wahlkreis bildet.

Dieser Beitrag ist der vierte Teil der fünfteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits erschienen:

 


[1] Die Darstellungen in diesem Beitrag basieren hauptsächlich auf Gruner, Erich (1978): Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat, 1848-1919. Vgl. zum Ganzen Corina Casanova (2011): Wahlkreisgeometrie, in: Kurze Geschichten zur Demokratie.

[2] Der protestantische Teil hatte mit 31’000 deutlich weniger Einwohner, diese wählten jedoch praktisch geschlossen freisinnig, während es im Norden eine relativ starke Minderheit gab, die nicht konservativ wählte.

[3] Bei den ersten Nationalratswahlen 1848 lag die Wahlkreiseinteilung in der Zuständigkeit der Kantone. Die damalige liberale Berner Regierung wählte die gleiche Einteilung wie zwei Jahre später das eidgenössische Parlament, mit der Ausnahme, dass der Bezirk La Neuveville damals noch dem Wahlkreis Seeland zugeteilt wurde.

[4] Brief an Ludwig Snell vom 12. Dezember 1850, zitiert in: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[5] 1902 erhielt der Nordkreis aufgrund des Bevölkerungswachstums einen dritten Nationalratssitz. In der Folge kam es zum freiwilligen Proporz zwischen Konservativen und Freisinnigen, unter dem die Konservativen jeweils zwei und die Freisinnigen einen Sitz erhielten.

Als in Luzern nach Gesteinsarten gewählt wurde

Logo_Serie_TrouvaillenVor den Kongresswahlen in den USA sorgen die Wahlkreise einmal mehr für hitzige Diskussionen. Die Manipulation von Wahlkreisgrenzen ist ein Trick, der schon im 19. Jahrhundert funktionierte – beispielsweise im Kanton Luzern.

Publiziert in der «Zentralschweiz am Sonntag» am 2.11.2014.

Am kommenden Dienstag sind in den USA Kongresswahlen. Viel zu reden gaben im Vorfeld einmal mehr die Wahlkreise. Wie sie eingeteilt werden, liegt in der Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten. Demokraten und Republikaner werfen sich deshalb gegenseitig immer wieder vor, die Wahlkreise in den Staaten, in denen sie an der Macht sind, zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren.

Der «Gerrymander»: Satirische Karikatur aus dem Jahr 1812 Bild: Wikipedia

Der «Gerrymander»: Satirische Karikatur aus dem Jahr 1812 Bild: Wikipedia

«Gerrymandering» nennt man das. Der Begriff geht auf Elbridge Gerry zurück, der im 19. Jahrhundert als Gouverneur von Massachusetts die Methode im grossen Stil anwandte. Er legte die Wahlkreise in seinem Staat so fest, dass seine Partei in möglichst vielen Distrikten eine knappe Mehrheit der Stimmen erhielt und damit deutlich mehr Sitze errang, als es ihrem Wähleranteil entsprochen hätte.

Durch diese Manipulation nahmen die Wahlkreise teilweise seltsame Formen an. Einer wand sich derart unnatürlich durch Massachusetts, dass Kritiker ihn spöttisch mit einem Salamander verglichen. Der Begriff «Gerrymander» war geboren.

Die heutigen Politiker stehen Gerry in nichts nach. In jüngerer Vergangenheit haben offenbar die Republikaner besonders extensiv vom Gerrymandering Gebrauch gemacht. So halten sie eine Mehrheit im Kongress, obwohl sie bei den letzten Wahlen weniger Stimmen bekamen als die Demokraten.[1]

In den USA ist es inzwischen zu einem beliebten Spiel geworden, Namen für besonders verschachtelte und verwinkelte Wahlkreise zu finden. So gibt es einen Wahlkreis, der an eine Gottesanbeterin erinnert, ein anderer ist als Elefanten-Wahlkreis bekannt und ein dritter als Ohrenschützer-Wahlkreis.

Erbitterte Feindschaft

Im Proporzsystem, wie es die Schweiz seit 1919 kennt, ist Gerrymandering nicht möglich (oder zumindest wenig erfolgversprechend), weil hier Stimmen für eine Minderheitspartei nicht automatisch verloren gehen. Als der Nationalrat aber noch im Majorzsystem gewählt wurde, war es auch hierzulande gang und gäbe, Wahlkreise zum eigenen parteipolitischen Vorteil zu manipulieren. Besonders schön illustriert dies das Beispiel von Luzern.

Zur Zeit der Gründung des Bundesstaats standen sich Liberale und Konservative in dem Kanton unversöhnlich gegenüber. Bereits bei der Abstimmung über die erste Bundesverfassung 1848 schummelte die liberale Regierung: Sie rechnete kurzerhand alle Nicht-Stimmenden dem Ja-Lager zu und erreichte so eine deutliche Zustimmung zum neuen Bundesstaat.

Der «Eschermander»: Die Wahlkreise für die Nationalratswahlen 1851 im Kanton Luzern. Der gelb eingefärbte Wahlkreis repräsentiert die «Kalkregion» (3 Sitze), der orange die «Molasseregion» (2 Sitze) und der grüne die «Ebene» (2 Sitze).

Der «Eschermander»: Die Wahlkreise für die Nationalratswahlen 1851 im Kanton Luzern. Der gelb eingefärbte Wahlkreis repräsentiert die «Kalkregion» (3 Sitze), der orange die «Molasseregion» (2 Sitze) und der grüne die «Ebene» (2 Sitze). Quelle: Erich Gruner et. al. (1978): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848-1919.

Als der Bund 1850 zum ersten Mal die Wahlkreise für die Nationalratswahlen festlegen sollte[2], fürchteten die herrschenden Freisinnigen, dass die Katholisch-Konservativen im ehemaligen Sonderbundskanton Luzern den Sieg davontragen würden. Um dies zu verhindern, griff die zuständige Nationalratskommission unter der Leitung des einflussreichen Eisenbahnunternehmers Alfred Escher zu den gleichen Mitteln, die sich schon bei Elbridge Gerry bewährt hatten. Sie versuchten, möglichst viele Gebiete, die mehrheitlich konservativ stimmten, in einem Wahlkreis zu konzentrieren. Dieser schlängelte sich quer durch den ganzen Kanton – von Luthern im Westen bis Meierskappel im Osten. Auf gewachsene geografische Einheiten wie Amtsbezirke oder Täler nahm die Kommission erst gar keine Rücksicht.

Es war so gut wie sicher, dass die Katholisch-Konservativen in diesem Wahlkreis gewinnen und zwei Nationalratssitze holen würden. Dafür fehlten ihnen in den anderen beiden Wahlkreisen im Norden (zwei Sitze) und Süden (drei Sitze) entscheidende Stimmen, so dass sich dort die Freisinnigen gute Wahlchancen ausrechnen konnten.

«Possierliche Begründung»

Die Konservativen ahnten, dass die unnatürliche Einteilung des Kantons parteitaktische Gründe hatte. Ihr Wortführer im Nationalrat, Philipp Anton von Segesser, griff die Freisinnigen scharf an. Mit der vorgeschlagenen Einteilung würden Ämter und Gerichtskreise willkürlich getrennt und Täler quer durchschnitten, klagte er während der Ratsdebatte.

Die Kommission wies den Vorwurf, sie würde die Konservativen bewusst benachteiligen, weit von sich. Die seltsamen Wahlkreise rechtfertigte sie mit der kreativen Begründung, sie habe bei der Einteilung «geologische» Kriterien berücksichtigt: Ein Wahlkreis umfasse die «Kalkregion», einer die «Molasseregion» und einer die «Ebene».

Für Rücksichten auf Gesteinsarten hatte Segesser indes wenig Verständnis. Die Begründung sei «possierlich», befand er. Doch er konnte nichts ausrichten: Die freisinnige Übermacht im Nationalrat setzte sich durch.

Der Plan der Wahlkreisarchitekten ging auf: Die Freisinnigen sicherten sich in Luzern 5 von 7 Nationalratsmandaten[3] und hielten diese Dominanz über Jahre aufrecht. Erst nachdem die Konservativen in Luzern so stark geworden waren, dass sie einen zweiten Wahlkreis gewannen, stimmten die Freisinnigen 1871 einer Neueinteilung der Wahlkreise zu.

Trotzdem blieb das Thema ein Zankapfel: 1902 ergriffen die Luzerner Konservativen sogar das Referendum gegen das nationale Wahlgesetz, weil sie sich erneut benachteiligt fühlten. Sie schafften es jedoch nicht, innerhalb der gesetzlichen Frist genügend Unterschriften zusammenzubringen. Erst die Einführung des Proporzwahlsystems 1919 setzte den hitzigen Diskussionen ein für allemal ein Ende.

Dieser Beitrag ist der dritte Teil der fünfteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits erschienen:

 


[1] Einzelne Staaten – vor allem demokratisch regierte – haben die Einteilung der Wahlkreise unabhängigen Kommissionen übertragen.

[2]Bei den ersten Nationalratswahlen 1848 war die Einteilung der Wahlkreise den Kantonen selbst überlassen worden. Luzern hatte damals sechs Sitze und besetzte diese in sechs Einerwahlkreisen (die Freisinnigen gewannen in fünf davon).

[3] Die Wahlkreisgeometrie war dabei nicht das einzige Mittel, das die Katholisch-Konservativen benachteiligte. So platzierten die Liberalen die Wahlorte in den konservativ dominierten Gebieten bewusst an abgelegenen Orten, um den Stimmberechtigten die Wahl zu erschweren.

Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat

Logo_Serie_TrouvaillenSchaffhausen wartet seit 166 Jahren auf einen eigenen Bundesrat. Was nur wenige wissen: In den Anfangstagen der Bundesstaats hatte der Kanton für kurze Zeit einen Vertreter in der Landesregierung. Möglich machten dies eine ungeschriebene Regel – und ein glückloser Tessiner.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Nach offizieller Statistik haben in der 166-jährigen Geschichte des Bundesstaats nur fünf Kantone noch nie einen eigenen Bundesrat gestellt: Uri, Schwyz, Nidwalden, Jura und Schaffhausen. Allerdings: Im Fall von Schaffhausen trifft diese Aussage nicht ganz zu. Denn im 19. Jahrhundert, nach der Gründung des Bundesstaats, stellte der Kanton für eine kurze Zeit einen Vertreter in der Landesregierung – zumindest formell.

In den ersten Dekaden war der junge Bundesstaat liberal-radikal dominiert; die sieben ersten Bundesräte gehörten allesamt der freisinnigen Familie an. Um in den stürmischen Anfangszeiten sicherzustellen, dass die Magistraten einen gewissen Rückhalt im Volk genossen, bürgerte sich eine ungeschriebene Regel ein: Alle Mitglieder der Landesregierung – neu kandidierende wie auch bisherige – mussten die Wahl in den Nationalrat schaffen, um als Bundesräte (wieder-)gewählt werden zu können. Man nannte das «Komplimentswahl». Entsprechende Regeln galten bereits in vielen Kantonen bei der Wahl der Kantonsregierung (bevor die Volkswahl eingeführt wurde).

Opfer «pfäffisch-österreichischer Ränke»?

Statue von Stafano Franscini. Bild: Eigene Aufnahme

Statue von Stefano Franscini. Bild: Eigene Aufnahme

Die Komplimentswahl wurde dem Tessiner Stefano Franscini 1854 zum Verhängnis. Der Statistiker, alt Regierungsrat, ETH-Mitbegründer sowie Vater der Volksschule und Volkszählung war 1848 noch mit einem Glanzresultat in die grosse Kammer und kurz darauf in den ersten Bundesrat gewählt worden. Doch seine Position war nicht gefestigt. Die im Sonderbundskrieg geschlagenen Katholisch-Konservativen wurden immer stärker – auch im Tessin. Hinzu kam, dass der progressive Franscini innerhalb seines eigenen Lagers, der Freisinnigen, nicht unumstritten war.

Bei den ersten Neuwahlen 1851 (damals dauerte die Legislatur nur drei Jahre) schaffte er die Wahl in den Nationalrat noch ganz knapp als dritter und letzter Vertreter seines Wahlkreises. Doch 1854 verliess ihn das Glück: Im ersten Wahlgang am 29. Oktober erreichte er nur das viertbeste Resultat und verpasste die Wahl. Geschlagen geben musste er sich einem liberalen und zwei katholisch-konservativen Kandidaten.[1]

Damit hätte er eigentlich als Bundesrat zurücktreten müssen. Durch eine glückliche Fügung erhielt er jedoch noch eine Chance. Denn im Kanton Schaffhausen hatte nach zwei Wahlgängen mit etlichen Kandidaten erst der bisherige Nationalrat Johann Georg Fuog das absolute Mehr erreicht, womit der zweite Schaffhauser Sitz noch nicht besetzt war.

Kurzerhand portierten einige Schaffhauser Freisinnige Franscini als Kandidaten für den freien Sitz. In mehreren Zeitungsartikeln rührten sie die Werbetrommel für den Tessiner. Dieser sei in seinem Heimatkanton «durch pfäffisch-österreichische Ränke» unterlegen, heisst es etwa in einem Beitrag im «Tage-Blatt». Darin wird an den Patriotismus der Schaffhauser appelliert: Der Bundesrat drohe «einen würdigen Patrioten» zu verlieren, «wenn nicht eidgenössischer Sinn die Hand bietet». Die Wähler sollten sich deshalb «über den Kantönligeist wegsetzen» und Franscini ihre Stimme geben.[2]

Im dritten Wahlgang holte Franscini zunächst nur 569 Stimmen (10.5 Prozent). Weil aber keiner seiner Konkurrenten das absolute Mehr erreichte, kam es am 19. November zu einem vierten Wahlgang. Da dort nur noch die drei besten des vorhergehenden Wahlgangs antreten durften, klappte es für Franscini schliesslich: Er schaffte die Wahl mit 57.3 Prozent der Stimmen und zog als Vertreter Schaffhausens in den Nationalrat ein. Kurz darauf wurde er am 6. Dezember mit 81 von 147 Stimmen als Bundesrat bestätigt.

Weniger Glück hatte sein Kollege Ulrich Ochsenbein. Der Berner verpasste 1854 die Wahl in den Nationalrat in seinem Wahlkreis ebenfalls. In der Folge verweigerte ihm die Bundesversammlung – wo er indes schon vorher umstritten war – die Wiederwahl als Bundesrat.[3]

Schaler Beigeschmack

Das Comeback Franscinis ist erstaunlich. Zwar gab es im protestantischen Schaffhausen keine katholisch-konservative Opposition, die ein Interesse daran gehabt hätte, einem freisinnigen Bundesrat ein Bein zu stellen. Zudem mussten die Schaffhauser den Sitz Franscini ja nur vorübergehend überlassen und konnten ihn nach dessen Wiederwahl als Bundesrat nach ein paar Monaten wieder mit einem «Einheimischen» besetzen.

Dennoch ist bemerkenswert, wie sich trotz der damals noch umständlichen und langsamen Kommunikation innert neun Tagen eine Mehrheit der Bürger dazu mobilisieren liess, einem nicht-ortsansässigen Kandidaten ihre Stimme zu geben. Weil damals noch im Majorzsystem (mit absolutem Mehr) gewählt wurde und es keine vorgedruckten Stimmzettel gab, konnten sie ja nicht einfach eine vorgedruckte Liste einwerfen, sondern mussten ihn aktiv auf ihren Stimmzettel schreiben.

Trotz des Erfolgs bleibt natürlich ein schaler Beigeschmack: Denn welchen Sinn machte die Anforderung, dass ein Bundesrat vorab als Nationalrat gewählt werden muss, wenn sie einfach umgangen werden konnte?

Revitalisiertes Vertrauensvotum?

Die ungeschriebene Regel der Komplimentswahl blieb noch bis in die 1880er Jahre bestehen, ehe sie zusehends ignoriert und nach 1896 gar nicht mehr angewandt wurde. Die Idee, dass Bundesräte einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung haben sollen, bleibt aber bis heute relevant. Der Politgeograf Michael Hermann nahm die alte Regel zum Vorbild, als er vor einigen Jahren im Vorfeld der Abstimmung über die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates  einen Kompromissvorschlag formulierte.[4] Demnach sollten sich amtierende Bundesräte jeweils zeitgleich mit den Nationalratswahlen einem «Vertrauensvotum» des Volkes stellen: Jene, die eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürger hinter sich hätten, wären direkt wiedergewählt. Die anderen müssten sich wie bisher der Bundesversammlung zur Wiederwahl stellen.

Ob Franscini sich nach seiner dritten Amtszeit als Bundesrat erneut in Schaffhausen zur Wahl gestellt hätte, muss offen bleiben: Er verstarb noch vor den Wahlen 1857 im Amt.

 

Dieser Beitrag ist der zweite Teil der fünfteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits erschienen:

 


[1] Sämtliche Angaben zu den Wahlresultaten stammen aus: Erich Gruner (1978): Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919.

[2] Walter Wettstein (1918): Eine interessante Schaffhauser Wahl – Die Wahl von Bundesrat Stefano Franscini zum Schaffhauser Nationalrat im Jahre 1854, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Heft 9, Hg. vom Hist.-antiquar. Verein Schaffhausen.

[3] Paul Fink (1995): Die «Komplimentswahl» von amtierenden Bundesräten in den Nationalrat 1851-1896, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Band 45, Heft 2. Später gab es noch weitere Bundesräte, denen die Komplimentswahl im eigenen Kanton misslang. Nicht immer wurde die ungeschriebene Regel allerdings strikt befolgt. Der Genfer Jean-Jacques Challet-Venel wurde 1866 als Bundesrat wiedergewählt, obwohl er bei den Nationalratswahlen unterlegen war. Der Luzerner Josef Martin Knüsel nahm der Bundesversammlung die Entscheidung ab, als er 1875 nach verpasster Komplimentswahl zurücktrat. Andere Magistraten waren weniger mutig: Numa Droz zog 1878, nachdem ihm seine Partei in Neuenburg die Unterstützung verweigert hatte, gar nicht zur Nationalratswahl an und vermied so ein Misstrauensvotum. Paul Ceresole erwartete 1872 in seinem Heimatkandton Waadt ebenfalls eine Niederlage und trat lieber im Berner Oberland zur Wahl an.

[4] Michael Hermann (2011): Konkordanz in der Krise. Ideen für eine Revitalisierung.

Der Tag, als in Schänis der Sonderbundskrieg ausgelöst wurde

Logo_Serie_TrouvaillenVor 166 Jahren schlossen sich die Schweizer Kantone zu einem Bundesstaat zusammen. Es hätte aber auch alles ganz anders kommen können, wäre da nicht der Bezirk Gaster im Kanton St. Gallen gewesen, der bei den Grossratswahlen die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellte.

Publiziert bei «Watson» am 02.08.2014. Der Beitrag ist der Auftakt zur mehrteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats».

Im Jahr 1847 war die Schweiz ein gespaltenes Land. Liberale und Konservative standen sich unversöhnlich gegenüber. Die Freisinnigen strebten danach, den bis dahin losen Staatenbund der Eidgenossenschaft zu einem Bundesstaat zu vereinen; die Konservativen wehrten sich dagegen nach Kräften.

In den 1840er Jahre waren immer mehr Kantone vom konservativen ins liberale Lager gewechselt, so dass die Freisinnigen nahe daran waren, in der Tagsatzung eine Mehrheit zu erlangen. Auf der Kippe stand St. Gallen: In dem konfessionell gemischten Kanton hielten sich Liberale und Katholisch-Konservative die Waage. Im Grossen Rat sassen nach den Wahlen 1845 genau 75 Liberale und 75 Konservative. St. Gallen war das, was man in den USA heute einen «swing state» nennen würde.

1847 spitzten sich die Spannungen zwischen den beiden Seiten immer mehr zu. Nachdem der Konflikt so weit eskaliert war, dass freisinnige Truppen in zwei (erfolglosen) Freischarenzügen Luzern angriffen, schlossen sich die konservativ regierten katholischen Kantone zu einem Verteidigungsbündnis zusammen, dem Sonderbund. Die Liberalen tobten: Sie bezeichneten den Zusammenschluss als illegal und drängten auf seine Auflösung, notfalls mit Gewalt. Dazu fehlte ihnen in der Tagsatzung allerdings genau eine Stimme.

An der Wegscheide

Der Kanton St. Gallen hatte bis dahin keinen Beschluss zum Sonderbund fassen können, weil sich die Stimmen der Liberalen und Konservativen gegenseitig aufhoben. Unter diesen Voraussetzungen wurden die Grossratswahlen 1847 zum wegweisenden Ereignis: Sollten die Liberalen eine Mehrheit erringen, wäre der Weg frei für einen Tagsatzungsbeschluss zur Auflösung des Sonderbunds; sollten die Konservativen gewinnen, konnte die umstrittene Allianz weiterbestehen.

Tatsächlich hätten die Konservativen den Sieg davongetragen, wäre es nicht im Bezirk Gaster zu einer faustdicken Überraschung gekommen. Die katholische Region galt damals als konservative Hochburg. Doch als die Gasterländer am 2. Mai 1847 zu ihrer Wahlversammlung in Schänis zusammenkamen, wählten sie entgegen allen Erwartungen ausschliesslich liberale Kandidaten. Dadurch verschoben sich die Sitzverhältnisse im Kanton: Dank der sechs Sitze aus Gaster hatten die Liberalen im Grossen Rat nun 77 Mandate und damit eine hauchdünne Mehrheit.[1]

Der St. Galler SP-Ständeratskandidat Paul Rechsteiner und der Schäniser Gemeindepräsident Erich Jud weihen die Gedenktafel an die Wahl von 1847 ein. Quelle:

Der St. Galler SP-Ständeratskandidat Paul Rechsteiner und der Schäniser Gemeindepräsident Erich Jud weihen die Gedenktafel an die Wahl von 1847 ein. Bild: Zürichsee-Zeitung, 11. Oktober 2011

Wahlbetrugsvorwürfe

Umstritten war allerdings, ob bei der Wahl alles mit rechten Dingen zugegangen war. So beschuldigten die Gasterländer Konservativen die Liberalen, sie hätten nichtstimmberechtigte Gesinnungsfreunde aus dem Glarnerland in die Wahlversammlung hineingeschmuggelt.

Auch wurde der Vorwurf erhoben, die Liberalen hätten heimlich die Kirchturmuhr in Schänis vorgestellt, sodass die Wähler aus dem konservativen Amden zu spät zur Versammlung erschienen. Ob die Vorwürfe zutrafen und ob das Ergebnis sonst anders ausgefallen wäre, konnte nie geklärt werden.[2]

Gründung der modernen Schweiz

Das änderte nichts daran, dass die Wahl in St. Gallen den Liberalen in der Tagsatzung die letzte nötige Stimme brachte. Am 20. Juli erklärte das Gremium den Sonderbund mit 12 zu 11 Stimmen für illegal und beschloss kurze Zeit später, den Bundesvertrag von 1815 zu revidieren.

Damit war der Grundstein für die Gründung des Bundesstaats gelegt. Nachdem die Freisinnigen den Sonderbundskrieg gewonnen hatten, legten sie den Kantonen 1848 eine neue Verfassung vor. Die St. Galler Stimmbürger scheinen ihre folgenschwere Entscheidung nicht bereut zu haben: Sie nahmen die Bundesverfassung mit 68 Prozent der Stimmen an.

An die entscheidende Rolle des Gasters erinnert seit 2011 eine Gedenktafel am Rathaus in Schänis. Aufgestellt wurde diese allerdings nicht von den Freisinnigen, sondern vom damaligen SP-Ständeratskandidaten Paul Rechsteiner.


[1] Dass die Liberalen trotz der sechs zusätzlichen Sitze aus dem Gaster nur zwei Grossratsmandate mehr erhielten, erklärt sich daraus, dass sie gleichzeitig fast alle ihre Sitze im Bezirk Oberrheintal an die Konservativen verloren.

[2] Martin Röhl (1995): Die politischen Rechte im Kanton St. Gallen.