Tag Archives: Majorzsystem

Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem

Im März dieses Jahres hat das Bundesgericht entschieden, dass das Wahlsystem des Kantons Schwyz der Bundesverfassung widerspricht. Der Grund ist, dass der Kantonsrat nach dem Grundsatz des Proporz gewählt wird, die meisten Wahlkreise aber zu klein sind, um eine einigermassen proportionale Repräsentation im Parlament zu gewährleisten.

Mit dem negativen Befund der Lausanner Richter begannen die Probleme aber erst: Denn die neue Schwyzer Kantonsverfassung, die das Volk 2011 angenommen hatte, sieht genau das gleiche Wahlsystem vor. Weil der Bund die kantonalen Verfassungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung hin zu prüfen hat, musste man sich somit auch in Bern mit dem Schwyzer Wahlrecht beschäftigen. Für den Bundesrat war klar, dass der Bund den entscheidenden Absatz im Artikel zum Wahlsystem, welcher der Bundesverfassung widerspricht, nicht akzeptieren kann. Die gleiche Meinung vertrat die Staatspolitische Kommission des Ständerats. Im Plenum war dann aber das Lobbying der Schwyzer Kantonsvertreter erfolgreich: Der Ständerat sprach sich dafür aus, die Kantonsverfassung vollständig zu gewährleisten. Als nächstes kommt das Geschäft in den Nationalrat. Der Schwyzer Kantonsrat hat inzwischen entschieden, die neue Verfassung trotz des Einwands des Bundesrats in Kraft zu setzen.

Im Prinzip ist der Fall klar: Die Kantone sind bei den Bestimmungen in ihren eigenen Verfassungen frei, sofern sie nicht gegen die Bundesverfassung verstossen. Im Bezug auf das Wahlrecht bedeutet das: Jeder Kanton kann grundsätzlich selbst bestimmen, nach welchem System sein Parlament gewählt werden soll. Die Bundesverfassung schreibt nicht vor, ob das Mehrheits- oder das Verhältniswahlsystem zur Anwendung kommen soll. Wenn sich ein Kanton allerdings für das Proporzsystem entscheidet, muss dieses garantieren, dass die Parteien auch wirklich gemäss ihrer Wählerstärke im Parlament vertreten sind – das Prinzip der unverfälschten Stimmabgabe muss gewährleistet sein.

Und hier beginnen die Probleme mit dem Schwyzer Wahlsystem: Weil jede Gemeinde einen Wahlkreis bildet, sind die Wahlkreise so klein, dass kleinere Parteien keine oder nur geringe Wahlchancen haben: Von 30 Wahlkreisen haben 27 weniger als 10 Sitze – so viele sind gemäss Bundesgericht nötig, um in einem Proporzsystem eine einigermassen faire Repräsentation zu ermöglichen.

In fast der Hälfte der Wahlkreise wird lediglich ein Sitz vergeben. In diesen Gemeinden wird das Majorzsystem angewendet – obwohl die Kantonsverfassung (im Gegensatz etwa zu jener des Kantons Uri) dieses mit keinem Wort erwähnt und ausschliesslich vom «Grundsatz der Verhältniswahlen» spricht.

Dass die Wahlkreise den Gemeinden entsprechen, führt ausserdem zu extremen Ungleichheiten der Stimmgewichte. So hat die Stimme eines Bürgers in Riemenstalden (87 Einwohner, 1 Sitz) etwa 26 mal mehr Gewicht als die eines Bürgers in Unteriberg (2300 Einwohner, 1 Sitz), was mit dem Gebot der Rechtsgleichheit kaum zu vereinbaren ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass in den Einerwahlkreisen eine besonders unfaire Form des Mehrheitssystems zur Anwendung kommt, wie Ständerat Hans Stöckli in der Debatte feststellte. Es handelt sich um die so genannte relative Mehrheitswahl, die vor allem im angelsächsischen Raum verbreitet und dort als First-Past-The-Post-System bekannt ist.[1] Bei diesem System gewinnt in jedem Fall der Kandidat mit den meisten Stimmen im ersten Wahlgang, ohne dass es einen zweiten Wahlgang gibt. Derjenige, der den Sitz bekommt, hat also (anders als es die Bezeichnung «Mehrheitswahl» erwarten liesse) nicht zwingend die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, sondern im Extremfall deutlich weniger. Ein solches System benachteiligt kleine Parteien besonders stark und scheint schwerlich mit dem Prinzip der unverfälschten Stimmabgabe vereinbar, auch wenn sich das Bundesgericht dazu nicht geäussert hat.

Wie gesagt: Der Fall ist eigentlich klar. Die Debatte im Ständerat liess allerdings Zweifel darüber aufkommen, ob sich sämtliche Ratsmitglieder tatsächlich bewusst waren, worum es geht. Diskutiert wurde vor allem darüber, ob ein Mischsystem, das Proporz und Majorz kombiniert, mit dem Bundesrecht vereinbar ist. So ereiferte sich der Urner Standesvertreter Isidor Baumann:

«Es ist unverständlich, dass eine Mischung von Proporz und Majorz, die auf Verfassungsebene vorgesehen ist, nicht bundesrechtskonform sein soll.»

Tatsächlich ein solches System durchaus mit der Bundesverfassung vereinbar. Die Existenz eines Mischsystems an sich ist kein Problem, und es war auch nicht der Grund, weshalb sich der Bundesrat gegen die vollständige Gewährleistung ausgesprochen hatte, wie sich leicht feststellen lässt, wenn man die Botschaft der Regierung liest.

Reichlich konfus mutete das Votum des Schwyzer Ständerats Alex Kuprecht an, der zur Kritik an der relativen Mehrheitswahl Folgendes zu sagen hatte:

«Daher ist es, wenn in diesen Kleinstgemeinden nur eine Person antritt, die logische Konsequenz, dass halt nicht ein Proporzverfahren, sondern ein Majorzverfahren angewendet wird. Es ist völlig logisch, dass die Entscheidung dann im ersten Wahlgang getroffen wird.»

Das ist in der Tat völlig logisch. Kein Mehrheitswahlsystem der Welt sieht einen zweiten Wahlgang vor, wenn ein Kandidat bereits in der ersten Runde das absolute Mehr erreicht. Das ist aber eben nicht immer der Fall, und deshalb gibt es bei Majorzwahlen meist einen zweiten Wahlgang. Was das First-Past-the-Post-System kennzeichnet, ist, dass die Entscheidung immer im ersten Wahlgang fällt, egal, wie viele Stimmen der beste Kandidat dort holt.

Andere Ständeräte führten die kantonale Autonomie ins Feld und argumentierten, es gehe nicht an, dass sich der Bund in die Angelegenheiten der Kantone einmische. Der Wille der Schwyzer Bevölkerung sei zu respektieren, schliesslich habe eine deutliche Mehrheit Ja zur neuen Kantonsverfassung gesagt.

Auf den ersten Blick ist die Argumentation nachvollziehbar. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Bund aus Respekt vor der Schwyzer Verfassung die eigene ignorieren soll. Immerhin wurde auch die Bundesverfassung einst von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung angenommen (auch wenn die Schwyzer mehrheitlich Nein sagten).

Vor allem aber muss man sich fragen, welchen Sinn es macht, dass das Parlament Kantonsverfassungen gewährleisten muss, wenn eine Mehrheit offenbar der Ansicht ist, die Kantone bräuchten sich nicht ans Bundesrecht zu halten. Konsequenterweise müssten die Ständeräte, welche die kantonale Autonomie über alles stellen, die Abschaffung von Art. 51 Abs. 2 der Bundesverfassung fordern. Dass bisher kein solcher Vorstoss eingereicht wurde, sagt genug aus über die staatspolitische Glaubwürdigkeit jener Parlamentarier.


[1] Die Probleme des First-Past-the-Post-Systems kamen in diesem Blog schon einmal zur Sprache.

Bern bleibt rot-grün regiert – Hagenbach-Bischoff ist unschuldig

Die Stadt Bern hat gewählt – und sowohl Stadtpräsident Alexander Tschäppät als auch die rot-grüne Mehrheit in der Regierung bestätigt. Bei den Wahlen in den Gemeinderat – die nach dem Proporzverfahren durchgeführt wird – legten 59 Prozent der Wähler die Liste von Rot-Grün-Mitte (RGM) ein. Dahinter folgen mit einigem Abstand das Bürgerliche Bündnis (22.8 Prozent) und die Mitte-Liste (18.2 Prozent). Damit holt RGM drei von fünf Sitzen in der Exekutive, die beiden anderen Listen je einen.

Was auch immer die Gründe für den neuerlichen Wahlsieg von RGM sein mögen – dem Zuteilungsverfahren kann die Konkurrenz diesmal nicht die Schuld geben. Vor den Wahlen war eine Kontroverse über das geltende Verfahren Hagenbach-Bischoff entbrannt, nachdem der «Bund» herausgefunden hatte, dass RGM 2004 die Regierungsmehrheit verloren hätte, wenn das Sainte-Laguë-Verfahren zur Anwendung gekommen wäre. Politiker unterschiedlichster Couleur forderten deshalb eine Reform des Wahlsystems.

Bei diesen Wahlen hat das Hagenbach-Bischoff-Verfahren – mindestens bei der Gemeinderatswahl – allerdings keinen Vorteil für RGM gebracht. Unter dem Sainte-Laguë-Verfahren hätte die Sitzverteilung genau gleich ausgesehen, wie die folgende Aufstellung zeigt.

Liste Sitze ungerundet Hagenbach-Bischoff Sainte-Laguë
Rot-Grün-Mitte

3.0

3

3

Bürgerliches Bündnis

1.1

1

1

Mitte

0.9

1

1

Damit dürfte die Diskussion über das Zuteilungsverfahren fürs Erste verstummen. Wünschenswert wäre, wenn man sich stattdessen einmal mit der Frage auseinander setzen könnte, ob das Proporzverfahren bei Exekutivwahlen wirklich sinnvoll ist.

Zunächst wendet man sich in Bern aber den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zu.

Bastion des Majorzsystems

Graubünden ist neben Appenzell-Ausserhoden der einzige Schweizer Kanton, der sein Parlament noch vollständig im Majorzsystem bestellt. Und wenn es nach den grossen Parteien geht, soll das weiter so bleiben. Der Grosse Rat sprach sich am Montag mit einer deutlichen Mehrheit von 93 zu 21 Stimmen gegen die Initiative «Für gerechte Wahlen» aus, welche auf die Wahlen 2014 hin das Proporzsystem einführen will. Die Lager waren klar: Die kleinen Parteien SP, SVP und Grünliberale stimmten für die Initiative, FDP, CVP und BDP, die den Grossen Rat dominieren, wollen beim Majorzsystem bleiben. Nur zwei Grossräte – Vincent Augustin (CVP) und Urs Zweifel (FDP) – wichen von der Parteilinie ab und stimmten für das Proporzsystem.

Keine Chance hatte im Parlament auch der Gegenvorschlag der Regierung, der das Proporzsystem erst bei den Wahlen 2018 einführen wollte. Der Grosse Rat verwarf ihn mit 87 zu 20 Stimmen. Damit kommt die Initiative am 3. März ohne Gegenvorschlag vors Volk.

Die deutliche Ablehnung überrascht nicht. Die drei grossen Parteien im Parlament sind die Profiteure des Majorzverfahrens und haben kein Interesse an einem System, das die Sitze gerechter auf die Parteien verteilen würde. Bezeichnenderweise war die SVP vor der Abspaltung der BDP ebenfalls eine Verfechterin des Majorzsystems. Nachdem sie zu einer Kleinpartei geworden ist, setzt sie sich nun für den Systemwechsel ein und gehört zu den Initianten der Proporzinitiative.

Dass die Grossparteien gegen die Einführung eines Systems sind, das ihnen Parlamentssitze kosten dürfte, ist durchaus legitim. Amüsant ist, wie sie gleichzeitig jegliche parteipolitische Motivation in Abrede stellen. So sagte Brigitta Hitz (FDP) während der Debatte:

«Jawohl, [das Majorzsystem] benachteiligt kleine Parteien. Aber man muss auch sagen: Die Parteienperspektive ist nicht die einzige politisch relevante Perspektive.»

Betrachtet man die Abstimmung zur Proporzinitiaitve im Grossen Rat, erscheint diese Aussage geradezu grotesk. Angesichts der klaren Aufteilung der Ja- und Nein-Stimmen fällt es schwer, im Abstimmungsergebnis irgendeine andere Perspektive als jene der Parteien zu sehen.

Näher bei der Wahrheit dürfte die Aussage des Abweichlers Vincent Augustin liegen: «Seien wir ehrlich: Es geht hier allen um Machtpolitik.»

Exekutivwahlen: Majorz oder Proporz?

Im Kanton Aargau soll die Regierung künftig nicht mehr mittels Mehrheits-, sondern mittels Verhältniswahl bestimmt werden. Das fordern zwei SVP-Grossräte – interessanterweise kurz vor den Regierungsratswahlen in zwei Wochen, wo die Partei einen zweiten Sitz im fünfköpfigen Gremium anstrebt. Bisher muss sich die SVP trotz eines Wähleranteils von 32 Prozent mit einem einzigen Sitz zufrieden geben. Bei einer Proporzwahl würde sich dies wohl ändern. Verlierer wären die Grünen, die heute mit lediglich knapp 9 Prozent Wähleranteil eine Regierungsrätin stellen.

Den Proporz auf Regierungsebene bereits eingeführt hat man in der Stadt Bern. Wenn die Stimmbürger am 25. November den Gemeinderat – die Stadtberner Regierung – bestimmen, kommt wie immer das Verhältniswahlrecht zum Zug. Auch in Bern gibt es Diskussionen über das Wahlverfahren, seit der «Bund» kürzlich ausgerechnet hat, dass das etablierte Hagenbach-Bischoff-Verfahren das Rot-Grün-Mitte-Bündnis bevorzugt. Interessanterweise wird das Proporzwahlrecht an sich in der Debatte nicht in Frage gestellt. Die Diskussion entbrannt sich vielmehr am konkreten mathematischen Verfahren, da das Sainte-Laguë-Verfahren die Machtverteilung entscheidend verschieben würde.

Den Diskussionen in beiden Kantonen ist gemein, dass sie grösstenteils entlang der parteipolitischen Gräben verlaufen. Die oberflächlichen Debatten blenden die Unterschiede zwischen der Mehrheits- und der Verhältniswahl fast vollständig aus.

Dabei sind diese durchaus fundamental. Das Proporzwahlsystem hat den Zweck, dass die Parteien möglichst entsprechend ihrer Unterstützung unter den Wählern im zu wählenden Gremium vertreten sind. Dieses soll ein möglichst genaues Abbild der Bevölkerung darstellen. Demgegenüber wird bei der Majorzwahl die Person bewusst über die Partei gestellt: Jede und jeder der Gewählten soll von einer (zumindest relativen) Mehrheit der Stimmbürger getragen werden. Damit verbunden ist ein klarer Auftrag: Die Gewählten vertreten nicht das Partikularinteresse eines bestimmten Teils der Bevölkerung, sondern das Interesse einer Mehrheit der Wähler. Das ist auch der Grund dafür, dass in fast allen Kantonen das Parlament in einer Verhältniswahl, die Regierung dagegen mittels Mehrheitswahl gewählt wird: In Parlamenten ist eine möglichst wahrheitsgetreue Abbildung der Präferenzen der Wähler gewünscht, während von Regierungsmitgliedern sachorientierte Politik und Übernahme von Verantwortung erwartet wird.

Solche Überlegungen spielen im Aargau und in Bern höchstens am Rande eine Rolle. Stattdessen sind die Diskussionen vor allem von der Frage geprägt, welches System welcher Partei nützen würde. Es zeigt sich einmal mehr das bekannte Phänomen: Fragen des politischen Systems sind auch (und oft in erster Linie) parteipolitische Fragen. Denn ob die Spielregeln geändert werden oder nicht, wird stets unter den bestehenden Regeln entschieden, und gegen eine Änderung stellen sich typischerweise jene, die von den bestehenden Regeln profitieren.

Das ist zwar weder überraschend noch verwerflich. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn die Politiker bei der Diskussion über Regierungswahlverfahren einmal die konkreten Vor- und Nachteile von Propoz und Majorz in den Fokus ihrer Überlegungen stellen würden anstatt des Schicksals der eigenen Partei.


Einen interessanten Beitrag zum Thema hat vor einiger Zeit Mark Balsiger in seinem Blog geschrieben.

Wieso die Silly Party in Harpenden verlor

Den mit Abstand anschaulichsten und unterhaltsamsten Beweis für die Mängel des britischen Mehrheitswahlsystems liefern die Briten selbst. Der «Election Night Special»-Sketch der britischen Komikertruppe Monty Python parodiert eine Sendung über die britischen Unterhauswahlen, bei denen zwei Parteien, die Silly Party und die Sensible Party, um die Sitze in den einzelnen Wahlbezirken kämpfen. Im Wahlkreis Harpenden mischt jedoch ein unabhängiger «very silly candidate» den Zweikampf gehörig auf. Film ab:

Die Ergebnisse im Detail:

Leicester

Name Partei Stimmen
Arthur J. Smith Sensible Party

30’612

Jethro Q. Walrustitty Silly Party

32’108

Luton

Name Partei Stimmen
Alan Jones Sensible Party

9’112

Tarquin Fin- tim- lin- bin- whin- bim- lin- bus- stop- F’tang- F’tang- Olé- Biscuitbarrel Silly Party

12’441

Kevin Phillips-Bong Slightly Silly

0

Harpenden

Name Partei Stimmen
James Walker Sensible Party

26’318

Elsie Zzzzzzzzzzzzzzz Silly Party

26’317

Malcolm Peter Brian Telescope Adrian Umbrella Stand Jasper Wednesday … Stoatgobbler John Raw Vegetable … Arthur Norman Michael … Featherstone Smith … Northgot Edwards Harris … Mason … Frampton Jones Fruitbat Gilbert ‹We’ll keep a welcome in the› … Williams If I Could Walk That Way Jenkin … Tiger-draws Pratt Thompson ‹Raindrops Keep Falling On My Head› Darcy Carter … Pussycat ‹Don’t Sleep In The Subway› Barton Mannering … Smith Very Silly

2

Die Wahlresultate veranschaulichen die Probleme des Mehrheitswahlsystems, wie es in Grossbritannien zur Anwendung kommt (das so genannte First-Past-the-Post-System). In diesem System werden die Sitze jeweils einzeln vergeben; es gewinnt der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Es reichen somit weniger als 50 Prozent der Stimmen aus, um den Sitz zu holen.

Das Hauptproblem dieses Systems ist, dass es den Wählerwillen verzerrt. Weil nur ein Kandidat gewinnen kann, werden die Wähler praktisch gezwungen, strategisch zu wählen: Anstatt ihre Stimme an einen Aussenseiter, der auf ihrer Linie politisiert, zu «verschenken», wählen sie einen aussichtsreicheren Kandidaten, auch wenn er nicht unbedingt ihre Ansichten vertritt. Auf der anderen Seite besteht auch für die Politiker der politischen Blöcke ein Anreiz, sich zu koordinieren und im Idealfall alle Kräfte auf einen Kandidaten zu bündeln.

Das gelingt jedoch nicht immer gleich gut, wie die «Silly Party» in Harpenden schmerzlich erfahren musste. Obwohl mehr als die Hälfte der Wählerschaft auf der «silly» Seite des politischen Spektrums stand, machte James Walker von der «Sensible Party» das Rennen. Grund dafür war das Auftauchen eines unabhängigen, «very silly» Kandidat, der die «silly» Wählerschaft spaltete und Elsie Zzzzzzzzzzzzzzz von der «Silly Party» die entscheidenden Stimmen abnahm – ein Paradebeispiel dessen, was man in den USA auch als «Nader effect» bezeichnet.

Sobald mehr als zwei Kandidaten zur Wahl antreten, verkommen Wahlen mit dem FPTP-System somit zu einem Roulette-Spiel, dessen Ausgang oftmals kaum noch etwas mit den Absichten der Wähler zu tun hat. Das ist besonders deshalb stossend, weil Mehrheitswahlsysteme den Anspruch haben, den Wählerwillen unmittelbar auf die Regierungsverantwortung zu übertragen.

Diesem Anspruch werden Majorzwahlen viel weniger gerecht, als ihre Befürworter behaupten. Dies bestätigte eine Untersuchung des Politikwissenschafters G. Bingham Powell. Er kam darin zum Schluss, dass in Proporzsystemen die Präferenzen der Bürger eindeutig besser in der Politik der Regierung wiederspiegelt werden als in Mehrheitswahlsystemen.[1]

Von Fakten lassen sich die Briten aber offensichtlich nicht beirren. Vergangenes Jahr scheiterten die Liberaldemokraten an der Urne mit einem Vorschlag, bei den Unterhauswahlen statt dem reinen Mehrheitswahlsystem künftig eine leichte Abwandlung davon, das «Alternative Vote»-System anzuwenden.

Mit «Alternative Vote» hätte die «Silly Party» ihre Niederlage in Harpenden womöglich abwenden können, vorausgesetzt, die Wähler des «very silly» Kandidaten hätten als zweite Wahl Elsie Zzzzzzzzzzzzzzz gewählt. Eindeutig die bessere Lösung wäre aber die Einführung des Proporzwahlsystems: Damit hätten nämlich auch die «very silly» Wähler eine realistische Chance, im Parlament vertreten zu sein.


[1] Powell, G. Bingham (2000): Elections as instruments of democracy, zitiert in: Kriesi, Hanspeter (2007): Vergleichende Politikwissenschaft. Teil II.

Ein gewählter EU-Präsident zur «Stärkung der demokratischen Legitimation»?

Guido Westerwelle

Demokratisierung von oben: Guido Westerwelle. Bild: Wikipedia

Ein Interview Mario Montis hat in den letzten Tagen für Wirbel in Europa gesorgt. Der italienische Premierminister sagte im «Spiegel», die Regierungen der EU-Länder sollten weniger Rücksicht auf ihre Parlamente nehmen. «Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden liessen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration», warnte er.

Dass Montis Aussagen von wenig Einsicht ins Funktionieren von Demokratien zeugen, sondern vielmehr sinnbildlich sind für die Hilfs- und Ideenlosigkeit der europäischen Politik, muss an dieser Stelle nicht nochmals erwähnt werden. Interessanter sind die Reaktionen auf das Interview, die vorab in Deutschland heftig und fast ausschliesslich negativ ausfielen. Kaum ein Politiker, der Monti nicht öffentlich für seine Aussage rügte. Auch Aussenminister Guido Westerwelle stimmte in den Chor der kritischen Stimmen ein. Eine Schwächung der europäischen Parlamente zugunsten der nationalen Regierungen komme nicht in Frage, erklärte er. «Wir brauchen eine Stärkung, nicht Schwächung, der demokratischen Legitimation in Europa.»

Dass sich Westerwelle die Gelegenheit, einem Technokraten – dann noch einem südeuropäischen – an den Karren zu fahren und sich selbst als grossen Demokraten zu präsentieren, nicht entgehen lässt, mag man ihm nicht verübeln. Bei der Art und Weise, wie der Aussenminister diese «Stärkung der demokratischen Legitimation» zu erreichen gedenkt, drängen sich allerdings Zweifel auf.

Im März sinnierte Westerwelle darüber, wie man die EU demokratischer machen könnte. Er brachte dabei die Idee auf, dass der EU-Präsident künftig direkt gewählt werden sollte. «Das könnte der EU neuen Schwung verleihen», meinte er.

Ob ein direkt gewählter Präsident die gewünschte Demokratisierung bringen würde, ist allerdings aus mehreren Gründen fraglich.

Zunächst besteht das Demokratiedefizit der EU nicht darin, dass die Bürger ihre Repräsentanten nicht (direkt) wählen dürften, sondern im mangelnden Einfluss auf die EU-Gesetzgebung. Denn der Einfluss des (gewählten) EU-Parlaments auf die Rechtsetzung ist gegenüber dem EU-Rat stark eingeschränkt. Allerdings dürfte sich daran auch mit einem gewählten Präsidenten nichts ändern, denn dieser dürfte wohl kaum Gesetze im Alleingang verabschieden – und falls doch, dürfte sich Europa bald mit ganz anderen Problemen als Schuldenkrisen herumschlagen…

Problematisch ist darüber hinaus, dass der Präsident in einem einfachen Mehrheitswahlsystem gewählt würde. Das würde dazu führen, dass er nur etwas mehr als die Hälfte der Bürger vertreten würde. Derart disproportionale Wahlergebnisse sind Europa fremd. Die meisten europäischen Länder sind parlamentarische Demokratien mit Proporzsystem – ziemlich exakt das Gegenteil eines präsidentiellen Systems, wie es Westerwelle für die EU vorschwebt. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Bürger in einem solchen System wirklich repräsentiert fühlen würden.

Zudem stellt sich die Frage, weshalb Westerwelle mit seinen Reformideen beim EU-Präsidenten anfängt. Die EU von oben zu demokratisieren, wäre zweifellos ein bequemer Ansatz – bloss funktioniert er nicht. Denn die Ebenen darunter werden durch die Wahl des Präsidenten nicht demokratischer. Die Feststellung, dass die EU undemokratisch ist, basiert aber auf einer Entwicklung am anderen Ende: Die europäische Integration hat den Einfluss nationaler Parlamente zugunsten nationaler Regierungen eingeschränkt. Westerwelles Vorschlag würde daran nichts ändern, dafür würde er einer Exekutive mehr Macht geben, die von gar keinem Parlament kontrolliert wird.

Wie nun derselbe Westerwelle behaupten kann, die «parlamentarische Kontrolle der Europapolitik» stehe «ausserhalb jeder Diskussion», bleibt sein Geheimnis.